Gustav Tschirn Religion auch für Religionsverächter
Eine wissenschaftliche Erörterung
des
Mainz 1928 ________________________________________________________________________________________ Religion Eine wissenschaftliche Erörterung des Religionsbegriffs auf rein natürlicher Grundlage von Gustav Tschirn
Verlag „Freie Religion“, Mainz, 1928
Die religiöse Welle der Kriegszeit [Erster Weltkrieg] ist gründlich verebbt. Übrig geblieben sind vielfältige Schaumspritzer abergläubischer Überspanntheiten, wun-dergläubige Zirkel und ähnliche krankhafte Erscheinungen, die bis zu Hexen- und Teufelsaustreibung gehen, von Wahrsagerei und Zauberkuren nicht zu reden. Daneben ist im erklärlichen Kontrast das Prinzip der Religionslosigkeit in die Höhe geschossen. Das zeigt sich unter anderem darin, dass der religiöse Charakter der allgemeinen freigeistigen Bewegung, der früher in den freireligiösen Gemeinden vorwiegend zum Ausdruck kam, seit der Revolution zu Gunsten eines religionslosen Freidenkertums merklich in den Hintergrund geraten ist. Die neueste Stimmung schlägt zurück zur hassvollen Bitterkeit des alten Lucrez: Tantum religio potuit suadere malorum! Soviel Unheil hat die Religion heraufbeschwören können! Die Stimmung ist begreiflich nach dem [Ersten] Weltkrieg, der aller göttlichen Weltordnung Hohn gesprochen hat und vornehmlich mit aus dem christlich-religiös durchgotteten Imperialismus hervorgegangen ist. Der fromme Idealismus, in Stücke gebrochen, hat einem grausamen Realismus Platz gemacht. Darum: Bleibt mir mit der Religion vom Leibe! rufen Hunderttausende. Sie ist die größte Irreführung der Menschheit!, umnebelt den Verstand!, versenkt in Gefühlsduselei! Raubt Klarheit und Kraft!, auch in noch so modern frisierter Form! Ehrlicher heißer Widerwille gegen das bloße Wort „Religion“ flammt in den Hunderttausenden. Zuviel Blutvergießen, Verfolgung, Geistesunterdrückung und Menschheitsschaden hat sie seit Jahrtausenden über die Völker gebracht, als dass man sich mit ihr noch abgeben könnte, zumal sie alle Gräuel mit der Miene frommer Liebe und im Mantel stolzer Heiligkeit begangen hat; unerträglich! Darum soll man sich nur keine Mühe machen, dem Wort Religion eine künstlich neue Deutung zu geben, damit sie im Leben der Völker ihre unheilvolle Rolle weiter spiele! Es wird ohnehin genug gedeutelt und gedreht, auf dass man feststehende alte Begriffe innerhalb der Religion unter Vergewaltigung der Wahrheit mit ganz andersartigem Inhalt erfüllt. Man denke, wie sich der Kirchenliberalismus: Gottessohnschaft, Jungfrauengeburt, Himmelfahrt, Dreieinigkeit und anderes zurecht legt! Wer auf innere Reinlichkeit hält, muss solchen Alexandrinismus, ein Gewebe unerlaubter Deutungskunst, verabscheuen. Und das letzte Stück dieser unerlaubten Deuteleien wäre es schließlich, aus überkommener Geistesschwäche noch dem Religionsbegriff selber einen neuen Sinn einzutropfen, der ihm widernatürlich einen rein natürlichen, dauernd gültigen wissenschaftlichen Wert geben soll, statt dass die Religion den Bereich des Übernatürlichen schlechtweg abgeschafft wird. Anhand der Entwicklungsgeschichte der Menschheit zeigt sie sich klar als eine Art Kinderkrankheit unseres Geschlechts. Wirrer Phantasieglaube statt klarer Erkenntnis führte die kindlich träumende Menschheit bisher irre und hat nun endlich der allein maßgebenden Vernunft und Wissenschaft Platz zu machen, weswegen man pflichtgemäß das Wort Religion aus der Geschichte der Völker entschieden ausmerzt. Wenn Religion für das moderne Leben nur durch künstliche Deutelei zu halten wäre, dann würde auch der Schreiber dieses ihr unbedingt lieber den Laufpass geben. Neuer Most ist nicht in alte Schläuche zu füllen. Alte Formen und Buchstaben dürfen nimmermehr den Geist vergewaltigen und töten. Sonst begeht man die schlimmste Sünde, die wider den Heiligen Geist. Das führt zu widerwärtigen Zuständen. Dann allerdings lieber: Fort mit der Religion aus dem modernen Menschheitsleben! Aber dieses „Fort!“ darf immerhin nicht aus der bitteren Augenblicksstimmung eines besonders historischen Jahrzehnts, einer in ihren Inhalten entwurzelten Generation endgültig für immer über den Jahrtausenden aufgerichtet werden. Das wäre wohl doch zu sehr ein blinder Gelegenheits-Stimmungsausbruch, ein instinktives momentanes Gefühlsurteil. Und gerade das Gefühl soll ja bei den Irreligiösen für die Erkenntnis keine ausschlaggebende Rolle spielen, nur die unbewegte nüchterne Vernunft und Wissenschaft. So wäre es am Ende eine Ironie der Gegenwart, wenn die blinden Religionsgegner von vorne herein aus bloßem leidenschaftlichen Gefühl heraus die Religion abschaffen wollen, statt nur durch rein sachliche Prüfung. Da nun ganz offensichtlich die Irreligiösen von gefühlsmäßiger Stimmung zu ihrem Urteil mit getrieben werden, so ist zunächst ihr Anspruch auf höhere Verstandesüberlegenheit, auf reine Vertretung der objektiven Vernunft und Wissenschaft ein wenig problematisch, wenn nicht sofort hinfällig. Sie sind diesbezüglich leicht von eitler Selbsttäuschung umnebelt. Sie sind eben zuletzt gerade so gut stimmungsmäßig beeinflusste Menschen, wie die Religion, auch von Zeit und unbewusstem Empfinden abhängig. Diese Abhängigkeit muss man ins Auge fassen, dann erst kann man sich nach Möglichkeit über sie erheben und vom Boden objektiver Vernunft und Wissenschaft aus prüfen. Nur wenn wir vorurteilslos, von blind-abgünstiger wie blind-anhänglicher Stimmung möglichst unbeeinflusst, an die Frage herantreten, ob der entschieden moderne Freigeist noch Religion haben kann, werden wir den Anforderungen der wissenschaftlichen Objektivität genügen und zu einem wohlbegründeten reifen Urteil gelangen. Die Frage, was eigentlich Religion sei, steht keineswegs schon irgendwie von vorneherein fest, ist vielmehr noch ein offen schwebendes Problem. Das kann nicht Wunder nehmen, denn die Religionswissenschaft ist selber noch jung, noch im Werden begriffen. Da die bislang herrschende Kultur innerhalb der christlichen Völker einen ausgesprochen christlichen Charakter trug, so hat sie allem Religiösen mit unbewusster dogmatischer Gewalt einen christlich-konfessionellen Stempel aufgeprägt. Die christliche Religion galt eo ipso als die einzigartig wahre, als die eigentliche Religion an sich, von der die anderen Religionen nur Abirrungen, Verzerrungen waren. Erst die Gegenwart fängt an, die Glaubensformen des Heidentums bis zu den Naturmenschen hin als sachlich gleichwertigen Forschungsstoff neben das Christentum zu stellen. Damit beginnt aber auch erst die Möglichkeit, die Religion über die christliche Auffassung hinaus als naturgegebene Menschheitserscheinung unbefangen zu untersuchen. Diese Aufgabe liegt der Forschung noch ob, als ernste Pflicht, der sie sich nicht entziehen darf, ohne gröblich zu versagen. Eine Klärung und Erklärung des durch alle Völker und Zeiten gehenden Religionsbegriffs nach modern wissenschaftlicher Methode ist also etwas völlig und durchaus anderes, als etwa kirchenliberale Umdeutung historisch gegebener christlicher Begriffe in moderne Ideale. Für den Religionsbegriff wird die wissenschaftliche Deutung überhaupt erst gesucht, steht also noch durchaus frei und zur ernstesten Debatte. Wenn das Christentum dieser natürlich-allgemeinen Menschheitserscheinung seinen dogmatischen Stempel aufgedrückt hat, so hat es zu Unrecht sich Recht und Gewalt über dieselbe angemaßt, und davon ist die Religion aus allgemein menschheitlichen und wissenschaftlichen Gründen zu befreien. Das Christentum repräsentiert nicht „die“ Religion. So ist zum Beispiel die Bezeichnung „Religiöser Sozialismus“ insofern falsch und irreführend, als unter dieser Allgemeinbezeichnung ein speziell christlich gerichteter Sozialismus sein problematisches Wesen verschleiert. Auch ernste freigeistige Gelehrte sind sich nicht immer bewusst, wie stark sie noch von christlichen Einflüssen und instinktiven Voraussetzungen beeinflusst werden. Das erkennt man an der üblichen Definition des Religionsbegriffs. Rein sprachlich wird in der Regel gesagt, er bedeute „Verknüpfung“ des Menschen mit Gott, da er von dem lateinischen Wort religare „festbinden“ herkomme. Es ist geradezu erstaunlich, dass diese Ableitung noch immer gewagt und noch immer hingenommen wird. Jeder ältere Gymnasiast weiß, dass von dem zur ersten Konjugation gehörenden Zeitwort religare nur das Hauptwort religatio gebildet werden kann, wie etwa entsprechend von legare: legatio, dass man für religio aber ein Zeitwort relegere oder religere suchen muss. Zum Überfluss hat auch ein so großer lateinischer Sprachkundiger wie Cicero, diese Ableitung ausdrücklich angegeben. Danach hieße Religion: „Gründliche Betrachtung, gewissenhafte Forschung.“ Religio gleich religatio zu setzen, konnte nur das grobe Kirchenlatein fertig bringen. Wie man darin zu dogmatischen Deutungsversuchen mit der Sprache und dem Wort umging, das liegt beispielsweise auf dem weiten Gebiet der Bibelauslegung und Übersetzung grell zu Tage. So ist es dem Kirchenvater Laktanz ein grob gewalttätiger Einfall gewesen, religere mit religare zu vertauschen und so für die Religion die christlich zugeschnittene Erklärung festzusetzen: „Verknüpfung“ des Menschen mit Gott. Darin liegt die Existenz Gottes und der Offenbarungscharakter der Religion einfach vorausgesetzt, liegt aus biblischer Erinnerung der persönliche Verkehr Gottes mit Adam, Noah, Abraham, Moses und den Propheten als Urbild seiner Beziehungen zu allen Menschen für Diesseits und Jenseits tief ins Unbewusste eingebettet und schwingt und klingt heimlich mit, wenn man nur von Religion spricht. Damit ist dem kirchlichen Anspruch und Interesse bestens gedient, das im Wort religio eigentlich enthaltene Prinzip gewissenhafter freier Forschung glücklich ins Gegenteil verkehrt, in das Prinzip blindgläubiger Abhängigkeit und Unterwürfigkeit. Und auch kirchenfreie Forscher merken nicht, wie sie von vorne herein in der Schlinge des Kirchenlateins verstrickt und gegängelt werden. „Religion“ trägt auch ihnen allzu sehr nicht eine allgemein-menschliche, sondern eine christlich-konfessionelle Färbung. Auffallend zeigt dies die eben (1927) erschienene Schrift eines bekannten modernen Forschers, des Psychoanalytikers S. Freud: „Die Zukunft einer Illusion". Darin wird die Religion als Zwangs-Neurose, als Kindheits-Neurose aufgefasst, die zu überwinden ist (S. 70, 86). Aber die religiösen Vorstellungen, die danach als Illusion charakterisiert werden, konzentrieren sich auf Gottvater und Fortleben nach dem Tode mit Lohn und Strafe; eine Zusammenstellung, die ausgesprochenermaßen nur „der Endgestaltung in unserer heutigen weißen, christlichen Kultur entspricht“ (S. 30 vergl. 37, 62). Damit wird aber in sehr missverständlicher und unstatthafter Weise speziell nur die christliche Religion behandelt und erledigt; so als ob dies für die Religion überhaupt Geltung hätte. Bei Freuds spezialwissenschaft-licher Stellung ist es sehr erklärlich, wenn er die Vater-Religion als Kern alles Religiösen empfindet; wenn er die Religion aus dem „Ödipuskomplex der Vaterbeziehung“ entstammen lässt (S. 70), wie schon in seinem früheren Buch „Totem und Tabu“ die Wurzel des religiösen Bedürfnisses im Sohn-Vater-Verhältnis gesucht war. Aber er gibt gleich darauf doch selber zu, dass mit diesen Analogien das Wesen der Religion nicht erschöpft sei (S. 71) und verzichtet ausdrücklich, die Entwicklung der Gottesidee erst näher zu erforschen (S. 37). Gefühlsmäßig gebunden an die überlieferten Vorstellungen der christlichen Kultur zeigt sich Freud auch in dem Wunschgeständnis: „Es wäre ja sehr schön“, wenn es einen Weltschöpfer, ein Jenseits usw. zwecks Verwirklichung der sittlichen Weltordnung gäbe! (S. 53). Die Möglichkeit, dass eine Weltordnung ohne Schöpfer und Jenseits weit erhabener und schöner sein könnte, wird gar nicht in Betracht gezogen. Auch die Annahme, dass bei den niederen Massen ohne den überlieferten Gottesglauben wohl Totschlag usw. einrisse (S. 63), bedarf doch sehr der Einschränkung und Korrektur. Man sieht an einem so bemerkenswerten Beispiel, wie dem des geistvollen S. Freud, zu besonderer Warnung, dass die Gleichstellung von Religion und christlicher Glaubenswelt die Forschung der Wissenschaft zur Lösung obliegender Frage schnell auf ein falsches, totes Gleis führen kann, wo die christliche Vorstellungswelt als allgemein-religiöse in den Abgrund stürzt. Wenn aus ähnlicher Gleichstellung heraus auch entschiedene Freidenker die Religion prinzipiell von sich weisen, so ahnen sie wohl kaum, wie sehr sie im Schlepptau der Kirchlichen von der kirchlich aufgestellten und verbreiteten Definition des Religionsbegriffs beherrscht werden; wie wenig sie von wirklich vorurteilsfreiem und selbstständigem Standpunkt aus das betreffende weittragende Urteil fällen. Damit, dass die Christen ihre Konfession als „die“ Religion vortäuschen und nach grob falscher Deutung den „Ungläubigen“ einfach absprechen, dass demnach die Ungläubigen, in diese Willkürdeutung blind verstrickt, eilig entgegen rufen: „Wir wollen auch gar keine Religion haben!“ Damit ist die Sache nicht gründlich, nicht wissenschaftlich erledigt. Scharf
zeichnet den Unterschied zwischen Christentum und Religion David Fr.
Strauß in seinem „Alten und neuen Glauben“. Die Frage, ob „Wir“, die
Neugläubigen, noch Christen seien, beantwortet er entscheidend mit: Nein! (S.
94); dagegen die Frage, ob wir noch Er macht die Probe darauf, dass unser Empfinden für das All, wenn es verletzt wird, geradezu religiös reagiere. Das Problematische in der Erklärung der Religion tritt bei dieser Antwort klar hervor. Den vom modernen Psychoanalytiker Freud zu sehr außer Betracht gelassenen Unterschied zwischen Religion nach christlicher und nach natürlicher Auffassung finden wir weiterhin auch klar erkannt bei dem atheistischen und materialistischen Philosophen Ludwig Büchner, dem Verfasser von „Kraft und Stoff“. Die Broschüre „Über religiöse und wissenschaftliche Weltanschauung“ polemisiert gegen die Religion als den „Glauben an geistige Wesen und übernatürliche Mächte“, welcher aus Unwissenheit und Furcht gequollen sei (S. 1), aber auf S. 8 [ Anm.] wird ausdrücklich anerkannt, dass die Polemik gegen die religiöse Weltanschauung „sich selbstverständlich nur gegen die auf kirchlicher und konfessioneller Grundlage beruhende Auslegung des Wortes religiös“ richte. „Denn auch der Freidenker hat eine Religion oder einen Idealbegriff, einen Glauben an ein Höheres und Besseres“ usw. (S. 74). Die Religion des Freidenkers sei der „Glaube an die Verwirklichung des Idealen auf Erden, an Glück und Wohlfahrt des menschlichen Geschlechts“ (S. 7). Büchners Gesinnungsfreund, der ebenso radikal freidenkerische Dr. August Specht erkennt in seiner „Theologie und Wissenschaft“ (S. 340) die Religion als berechtigt an, wenn man in ihr das „Abhängigkeitsgefühl von der Natur und der menschlichen Gesellschaft“ ausgedrückt sehe. „Diese Religion der neuen einheitlichen Weltanschauung ist eine einfache Naturreligion. Sie ist ihrem Wesen und Prinzip nach durchaus bejahend, während die Kirchenreligion absolut verneinend ist, weil sie das Heil der Menschheit auf einem über-natürlichen, also unmöglichen Wege erstrebt.“ Ähnlich wie David Fr. Strauß gegen Schopenhauer an die lebendige Verehrung des Alls appelliert, sagt der feinsinnige Atheist Dr. Julius Duboc in seinem „Leben ohne Gott“, S. 24: „Das Weltganze als Weltwunder ist der selbstverständliche Gegenstand eines ehrfürchtigen Gefühls“ und S. 29 ff: „Mit dem ehrfürchtigen Empfinden betreten wir aber das religiöse Gebiet und zwar gleich den allerbesten Teil desselben“; und S. 37: „Es bedarf keines Mittlers (Gottes) zwischen uns und dem Weltall. Seine unendliche Schönheit strahlt Wärme und Leben in unser geistiges Empfinden und redet zu uns im Strom des Lichts, wie im schweigenden Dunkel der Nächte mit Feuerzungen der Begeisterung. – Wie der Christgläubige zu seinem Gott, so sprechen auch wir beim Scheiden von der Erde zu der Natur, dem Born alles Lebens, das auch uns gesegnet und mit Kraft erfüllt hat: In deine Hände befehlen wir unseren Geist.“ Wer fühlt sich dabei nicht erinnert an das große Empfinden Goethes, welches er zum Schluss des Gedichts „An Schillers Schädel“ ausströmt: „Was kann der Mensch im Leben mehr gewinnen, als dass sich Gott-Natur ihm offenbare!“ Zum Gedenken des toten Freundes gibt er diesem, aus jahrhundertelangen bedeutsamen Zeitwandlungen geborenen, Empfinden Ausdruck, weil auch Schiller in den „Philosophischen Briefen“ usw. Gott gleich Natur setzte, nach dem Vorgang Spinozas, nach dem Lobpreis Giordano Brunos: „Welt ist ein heiliges: hehres, verehrungswürdiges Wesen, dessen All-Odem beseelt jedes Leben, das drinnen nur atmet.“ So bleibt von diesem Grundelement neureligiösen Empfindens „Gott in der Natur“ etwas bestehen auch im Atheisten Duboc, Specht, Büchner usw. Bekannt ist, dass Haeckel bis an sein Lebensende begeistert eine monistische Religion des Wahren, Guten, Schönen, dieser menschlichen Dreieinigkeit, allerwärts verkündet hat. Und wie hervorragende Freidenker der Neuzeit als Einzelne ihre Überzeugung religiös bewertet haben, so lebt auch im Volk eine urwüchsige Anhänglichkeit an die Religion an sich, die sich leider praktisch nur allzu sehr als Anhänglichkeit an die Kirche dokumentiert, weil ihm eine andere, neue Form wahrer Religiosität noch allzu wenig durchschlagend und einheitlich eindrucksvoll geboten wird. Der Kulturhistoriker J. Scherr nennt die Religion „den Idealismus der Massen.“ Dazu stimmt die Erfahrung, dass so viele, die ihrer sozialistischen Überzeugung von einer neuen und schöneren Welt- und Lebensordnung den glühendsten Ausdruck geben wollen, oft rufen: "Der Sozialismus ist meine Religion!". Ähnlich bestätigt das ein radikaler Freidenker der jüngsten Zeit in bedeutsamer Weise. Das im Berliner Verlag „Der Freidenker“ 1927 erschienene, vom Staatsanwalt verfolgte Buch Friedrich Wendels „Die Kirche in der Karikatur“ konstatiert einleitend (S. 8): „Das Volk hat zu allen Zeiten ein sehr feines Empfinden für den fundamentalen Unterschied zwischen Religion und Kirche gehabt. Religion war ihm das Gefühl der Verbundenheit des Einzelnen zur menschlichen und kosmischen Umwelt; - in der Kirche erlebte es die wüste Korrumpierung dieses Gefühls. Volksreligiosität wurzelt im Diesseits, war eminent sozial gestimmt, rang sich aus den Nebeln der Legende kraftvoll zu rationeller Klarheit; - die Kirchlichkeit verlegte den Schwerpunkt in ein imaginäres Jenseits, war asozial usw. – Gott war dem Volk die lebendige Natur“ usw. Ein Kampf zwischen den großen Prinzipien beginnt in der Tiefe, wie Wendel weiter ausführt. „Wir stehen an der Schwelle einer Renaissance des Rationalismus“ (S. 10). Bei der Auflösung der kirchlichen Vorstellungen ergibt sich, dass das, „was man als Volksreligiosität zu bezeichnen pflegt, bei diesem Prozess nur gewinnen kann.“ – „Hat nicht Religion im Leibe, wer da Brot schaffen will für alle Hungernden?“(S. 11). Von überall her, auch vom Judentum, lasse sich erweisen, „dass jede Konfessionalisierung religiösen Gefühls Unheil zeugt“ (S. 24). Wie stark und selbstverständlich wird also in diesem radikalen Freidenkerbuch der Unterschied zwischen schädlich-konfessioneller und unvergänglich frei-natürlicher Religiosität hervorgehoben! In der oben zitierten Schrift „Religion und wissenschaftliche Weltanschauung“ (S. 75) erklingt Ludwig Büchners Bekenntnis: „Selbst der ausgesprochene Atheist glaubt an einen Gott -, eine Verkörperung oder Versinnbildlichung der allgemeinen Menschenliebe und Wohlfahrt." Und in der Korrespondenz des atheistischen proletarischen Freidenkertums, dem „Kurier“ (März 1925) besagt ein Artikel „Wissenschaft und Religion", dass der Fortschritt als eine Art „Gottwerdung des Menschen“ kernhaft zu kennzeichnen sei; dass sich der Unterschied zwischen dem idealistischen Theologen in die kurze Formel pressen lasse: „Gott ist nicht; Gott wird!“ Also in religiöser Sprache, in religiösem Empfinden treten die Grundelemente verschiedenartiger Welt- und Lebensanschauungen am klarsten und knappsten hervor, auch gerade hinsichtlich ihrer Gegensätze. Ein offenkundiger Beweis, dass die urwüchsigen religiösen Bedürfnisse auch im modernsten Freidenkertum noch fortwirken, spielt sich vor unseren Augen ab. Gerade in
den letzten Jahren haben die antireligiös gestimmten Freidenkerkreise die
einfachen Grundelemente des religiösen Kultus, Grabreden, Jugendweihen, auch Eheweihen, neu zu pflegen begonnen und sich dazu um
Sammlungen von Reden, Gesängen, Sprüchen, Festprogrammen usw. bemüht. Die
religiösen Naturfeste Weihnacht, Ostern und Pfingsten, dazu die Totenfeier,
werden nicht nur als selbstverständlich Die politischen Massendemonstrationen werden von Hendryk de Man völkerpsychologisch mit den katholischen Prozessionen verglichen. „Die Fahnen, die Inschriften, die Musik, der Blumenschmuck, die gemeinsam gesungenen Lieder spielen dabei dieselbe Rolle; ganz gleich, ob es dem Messias Christus oder dem Messias Revolution gilt.“ (Zur Psychologie des Sozialismus, S. 113 und ebenda S. 115): „In den romanisch-katholischen Ländern bildet die sozialistische Mariannenverehrung ein direktes Gegenstück zum kirchlichen Madonnenkultus.“ Ferner S. 107: „Der Sozialismus hat auch seine Apostel, Propheten, Heiligen und Märtyrer, wie die katholische Kirche.“ Deshalb wirft Hendryk de Man sogar die schwerwiegende Frage auf, ob nicht kommende Generationen „aus dem seelischen Bedürfnis des Glaubens an eine Zukunft bald eine zweite Religiosität erleben werden“ (S. 101). Nicht Abschaffung, sondern Neuerhebung der Religion schwebt ihm also vor Augen, und dafür bringt er als Motto des betreffenden Kapitels in seinem viel besprochenen Buch (S. 90) ein bedeutsames Zitat von dem berühmten englischen Sozialisten G.B. Shaw: „Wir glauben alle, dass unsere Religion in den letzten Zügen liegt, während sie in Wirklichkeit noch nicht geboren ist, obwohl das Zeitalter sichtlich mit ihr schwanger geht.“ Der
geistvolle Schriftsteller Shaw weiß also anders, als der geistvolle
Psychoanalytiker Freud, scharf zu unterscheiden zwischen dem
untergehenden Illusionismus der bisherigen christlichen Kultur und zwischen
dem aufsteigenden Idealismus einer neuen, ja erst der All dies soll zunächst nur dartun, ein wie ernstes und schweres Problem die Religion noch ist. Wer es aus persönlicher antikonfessioneller Stimmung mit einer verächtlichen Handbewegung, mit diktatorischen Worten erledigt, der begibt sich in die Gefahr, über diese Menschheitsfrage ungeheuer oberflächlich zu urteilen und von gründlichen Stoffkennern nicht ernst genommen zu werden, statt dass er durch laienhaft radikale Überlegenheitsminen einen einschüchternden Eindruck macht. Es geht einmal nicht anders: wer über Wesen und Recht der Religion urteilen will, der muss sich erst wissenschaftlich gründlich mit dem Gegenstand beschäftigen; umso nachhaltiger, weil die bisherige Stoffbearbeitung noch sehr unvollkommen ist. Sogar in der modernen Theologie findet sich das klare Zugeständnis, wie ungeklärt und schwankend noch die wissenschaftliche Definition des Religionsbegriffs sich aus den oben angegebenen Gründen hin und her bewegt. Siehe den Artikel in Holtzmann und Zöpffel, Kirchenlexikon. Er beginnt gleich: „Religion, eine im Gesamtleben der Menschheit ebenso schwerwiegende, wie in ihrer begrifflichen, ja selbst rein etymologischen Bedeutung nach keineswegs zu übereinstimmender Geltung gebrachte Sache". Eigentlich kann ein abschließendes Wort über Begriff und Wesen der Religion erst gesprochen werden als Ergebnis vergleichender Untersuchungen, wie die allgemeine Religionsgeschichte sie anstellt. – Aber das ungeheure Gebiet, welches sich hier eröffnet, ist noch keineswegs so allseitig bebaut und durchgearbeitet, dass es heutzutage möglich wäre, einen allgemein anerkannten Bescheid zu erteilen.“ Zu besonderer Bedeutung hat sich die Schleiermacher-sche Definition erhoben, Religion sei das „Gefühl der schlechthinigen Abhängigkeit“. Darin liegt etwas einfach Wahres. Das Bewusstwerden der schicksalsbestimmenden Abhängigkeit von welt- und leben-regierenden überlegenen Mächten ist von Uranfang her ein wesentlicher Faktor der entstehenden Religiosität gewesen. Aber eben nur ein Faktor, der zu einseitig nur die Passivität, das Schwächegefühl des hilflosen Menschen hervorhebt, den „Druck des Unendlichen“, wie der Religionsforscher Max Müller den Begriff kennzeichnet. Es kommt als gleichwertiges Moment hinzu, dass von Uranfang her der Mensch in der Religion dem „Druck“ den Gegendruck, dem Abhängigkeitsgefühl den aktiven Gegenversuch hinzugefügt hat, die weltregierenden Schicksalsmächte sich dienstbar zu machen, durch Zauberei, durch Opfergaben, durch Gebete, zuletzt durch denkende Naturbeherrschung. Erst galt: Not lehrt beten. Jetzt gilt: Not macht erfinderisch; Not lehrt erfinden. Das über Tierstumpfheit emporwachsende, höhere, empfindsamere, seiner bewusst werdende Ich des Menschen fühlt zugleich seine tausendfache Schicksalsverbundenheit mit tausend Einwirkungen nicht bloß in der Gegenwart, sondern auch der Zukunft, die er sich vorzustellen gelernt hat, und zugleich den unbedingten Trieb, dieser Schicksalsverbundenheit nach Kräften Herr und mächtig zu werden, im heißen Streben nach stetem Glück. Deshalb ist Leid, Erlösung das Grundthema der Religion, entsprechend den menschlichen Grundempfindungen und Grundtrieben. Wir brauchen bei dieser knappen Darstellung des Gegenstandes die philosophischen Erklärungen über Religion von Kant, Fichte, Schelling, Hegel etc. nicht ausführlich zu behandeln, obwohl sie natürlich auch viel psychologisch Interessantes bieten. Die Hauptsache ist jetzt, die früheren Erklärungs-versuche auf die neuen Tatsachen der Entwicklungstheorie, der wissenschaftlichen Anthropologie und historischen Völkerkunde, auf das tatsächliche Werden der Religion zu bauen. Ratzel sagt diesbezüglich in seiner Völkerkunde I (S. 32): „Die Religion hängt überall mit dem tiefen Bedürfnis des Menschen zusammen, für jedes Geschehen eine Ursache oder einen Urheber zu erspähen. Ihre tiefsten Wurzeln berühren sich mit denjenigen der Wissenschaft. Diesem Bedürfnis kommt nun sehr passend die Neigung entgegen, alle Naturerscheinung in einem gewissen Grade zu vermenschlichen.“ Es ist interessant, wie auch der freisinnige Theologe David Friedrich Strauß schon in seinem „Alten und neuen Glauben“ zu einer ähnlichen Festsetzung kommt, wobei er Bezug auf die Schleiermachersche Definition nimmt. Er lässt die Religion aus dem erwachenden Vernunfttrieb, der nach der Ursache fragt, dazu aus der Einbildungskraft entstehen; am urwüchsigsten aber aus dem selbstinteressierten Trieb nach Wohlbefinden, wie David Hume schon richtig behauptet habe. Deshalb seien von je als religiöse Motive mehr die unangenehmen als die angenehmen Lebenseindrücke wirksam gewesen, und die Ableitung der Religion aus der Furcht seitens der epikureischen Philosophen habe etwas unbestreitbar Richtiges an sich (S. 96). Das Schleiermachersche Abhängigkeitsgefühl sei zu ergänzen durch den Trieb, gegen die Abhängigkeit zu reagieren, sich Götter zu machen, welche die menschlichen Wünsche erfüllen. Sonach habe auch Feuerbachs Auffassung ihre Berechtigung, Ursprung und Wesen der Religion im menschlichen Wunsche zu suchen (S. 135 – 137). In der Tat, das dem Tier gegenüber viel höher entwickelte Ich des Menschen hat auch einen viel höher differenzierten Trieb nach Wohlbefinden, weil er über den Augenblick hinaus sieht. Er hat eine Erinnerung an die Vergangenheit in sich, die er notwendig mit der phantasievollen Voraussicht der Zukunft verknüpft, so dass er einen Zusammenhang seines Lebens kennt und diesen wieder im Zusammenhang mit den Schicksalsmächten empfindet. Daraus ergibt sich, dass er zunächst zwar noch nicht bei jedem Geschehen, wohl aber bei jedem sein Lebensglück stark berührenden, also besonders bei drastischen Unglücks- wie Glücksfällen, nach der Ursache und nach Vorbeugungsmitteln sucht, um sich zu helfen; und dabei personifiziert er die Unglück oder Glück verursachenden Dinge zu unmittelbaren Urhebern seines Leids oder seiner Freude. Der ganze auseinanderliegende Komplex dieser natürlichen Regungen konzentriert sich in dem komplizierteren Ich-Empfinden des Menschen, welches engstens mit seinem komplizierteren Welt-Empfinden zusammenhängt. So bezeichnet auch in der Menschheitsentwicklung jede neue Religiosität eine neue Stufe des menschlichen Ich- und Zusammenhangsgefühls, Selbst- und Weltbewusstseins, und so lassen sich all die verschiedenen genannten Elemente und Motive im Urwesen der Religion einheitlich verstehen, aus einer Wurzel heraus. Das dem Tier gegenüber viel reicher und komplizierter gewordene Ich fühlt seine ungleich höhere Abhängigkeit von tausend Schicksalen, nicht bloß blind im Augenblick des Geschehens, sondern durch Erinnerung und Phantasie auch für die Zukunft mit heißem Fürchten, Wünschen und Hoffen. Deshalb bohrt er mit Ungestüm voll unendlich neuen Aufmerkens die Frage nach Ursachen und Zusammenhängen in das Geschehen, die gigantische Frage nach dem „Warum“! Der Keim des Forschens, der Spekulation geht auf. Die Wurzel der Wissenschaft wird unerkannt gebildet, zugleich mit der Wurzel dichtender Phantasie und planmäßiger Sorge für dauerndes, künftiges Glück. Warum erschlug der Stein, der Blitz meinen Genossen? regte es sich dunkel, instinktiv im werdenden Menschen; und wie rette ich mich künftig vor ähnlichen Schlägen? Antwort gab die Phantasie: Der Fels, der von seinem Haupt den Stein herab schleuderte, die donnernde Wolke, die den Blitz entsandte, hat aus Zorn zur Bestrafung irgendwelcher Übeltat den betreffenden Genossen erschlagen. Die verursachenden Dinge gelten unmittelbar als Urheber des schrecklichen Geschehens, wie wenn sie absichtlich handelnde lebendige Wesen seien. Daraus folgte auch die instinktive Antwort auf die furchterfüllte Frage nach künftiger Rettung: Du musst diese mächtigen Dinge wie lebendige Wesen ehren, ihnen schmeicheln, ihre Wünsche und Gebote erraten und dich strengstens nach ihnen richten, ja musst ihnen Bitten und Geschenke entgegen tragen, damit sie dir gnädig gesinnt werden. Ein
ungeheures, lebendiges, phantasievolles Abhängigkeitsgefühl, Furcht der Welt
gegenüber, trieb elementar die ebenso starke phantasievolle Gegenaktion, den Es wäre töricht ausartende Jugendüberheblichkeit der modernen Kulturmenschheit, wenn sie sich nur des großen Abstandes ihrer Vernunftwelt von den primitiv-naiven Anfängen alles Denkens, Fühlens und Wollens aus dem ersten dunklen Kindheitszustand unserer Geschichte vor Augen halten, wenn sie sich nur dieses Unterschieds bewusst würde und rühmte und recht kräftig den Faden zerrisse, der aus der Kindheit in die zur Erkenntnis reifende Jugend empor reicht. Der Jüngling im gärenden neuen Kräftedrang weist es zornig von sich, noch ein Kind zu sein; der gereifte Mann versteht es erst, all den urwüchsigen Zauber und Wert der Kindheit zu schätzen, aus ihm Schätze fürs ganze Leben zu wahren. In dem schönen Gedicht von K. Georgi „Männerwürde“ ist der rechte Mann gekennzeichnet als „Held an Kraft, am Sinne Kind“. Verwundert freuen wir uns, wenn noch greise Kämpfer im Silberhaar uns mit kindesjungem Empfinden aus hellen Augen anblitzen, wie es ein Haeckel, ein Karl Scholl und viele Veteranen gerade der freigeistigen Bewegung taten. So soll auch die Menschheit im Ganzen, wenn sie voll stürmisch aufdrängenden Jugenddrangs das Kindische von sich tut, doch das Kindliche nicht gleichfalls unter die Füße treten. Auch die Menschheit als Ganzes hat es gar nötig, stets zu den Brunnen der Kindheit zurück zu kehren, um ewige Poesie und Jugendkraft daraus zu schöpfen, um nicht nüchtern, pedantisch, alt und kalt zu werden. So haben wir gerade mit reifendem Denken, das aus Gärung zur Klärung sich reinigt, bewunderungs- und liebevoll anzuerkennen, was alles schon im Ursprung der Religion, in rohester Form, genial Wertvolles und Zukunftsweisendes enthalten liegt: Die Poesie, die aus dem Personifikationstrieb quillt, alle Dinge zu vermenschlichen, wird nicht nur in jedem Kindergeschlecht neu geboren, indem die Kinder zu Spiel und Ernst mit den Dingen reden, sie kosen und strafen; sie lebt naturgemäß auch weiter vornehmlich bei den Dichtern, aber auch bei allen Menschen, deren keiner ganz und gar ohne jede Spur poetischer Phantasie ist. Allen „lacht“ das „Angesicht“ der Sonne und des Mondes, wie die Alltagssprache sich dichterisch mit solchen Ausdrücken schmückt. Wer ist wohl so banausisch, aus nüchterner Vernünftigkeit heraus schulmeisterlich aufzustehen und zu protestieren: Das ist ja eine Irreführung und Vorspiegelung falscher Tatsachen seitens der Phantasie. Die Sonne hat doch kein “Gesicht“, sie ist ein riesiger Feuerball. Welch ein Unsinn zu sagen, dass sie „lacht“! Uns lacht sie ebenso seelisch doch in Aug´ und Herz; wir fühlen sie so innig-persönlich mit uns und unserem Erdensein verbunden, über dem sie herrlich leuchtet, Wärme, Licht und Leben bringend. So personifizieren wir auch die dunkle Macht des Todes, sehen in ihm den „Knochenmann“, besser den „Friedensengel“, und vernehmen seine „Sprache“, ob er gleich keine Brust und Zunge und Lippe zum Sprechen hat. So lauschen wir der „Stimme“ der Nacht, des Waldes, des Meeres, des Winters, des Frühlings, machen uns Bilder von ihnen, nach unserem eigenen Wesen. Der Bach hüpft wie ein munterer Knabe und „murmelt“, „plaudert“. Die Blumen und Blätter „flüstern“ miteinander. Das Feuer „züngelt“ und „leckt“. Das Wasser zieht eine Beute in seine „Arme“; die „Hand des Sturms knickt Bäume. Es ist gar nicht abzusehen, wie tausendfältig unsere Alltagssprache von Personifikationspoesie durchsetzt ist; das entspricht einem Urtrieb des Menschen. Vom Boden dieser Beobachtung aus müssen wir bewerten, was darin lag, wenn einst der Urmensch voll naivem Ernst lauter Angesichter, Augen, Hände, Grinsen, Drohen, Absichten, Feinde und Freunde in den Naturerscheinungen sah, vor denen er sich fürchtete, die er nach seinen Wünschen lenken wollte. Er trug damit sein neu empfundenes starkes Ich expressionistisch in die Dinge, in die ganze Welt hinein und sah es aus ihr widerstrahlen. Er fühlte die Einheit seines Wesens mit der Welt, roh-phantastisch, dunkel, verwirrend, und dennoch wunderbar ahnungs- und verheißungsvoll zur Wahrheit hin, der einstigen höchsten Erkenntnis entgegen. Die innere Gleichartigkeit und Einheit von Ich und Welt, Geist und Natur, den Grundgedanken des Monismus hat der primitive Urmensch schon in seiner rohen Fetischreligion ahnend angenommen, aller bewussten Spekulation voraus. Ein ungeheuerlich geniales Wahrheitsahnen liegt von Anfang an in dieser religiösen Phantasie mit all ihren fürchterlichen und lächerlichen Verirrungen. Der phantastisch willkürliche Expressionismus der Naturmenschen hat sich in Jahrtausenden durch milliardenfache Erfahrungen den impressionistischen Eindrücken der Wirklichkeit unterordnen, weichen müssen, aber der Impressionismus weltanschaulicher Wahrheitserkenntnis nähert sich stetig der uranfänglichen expressionistischen Vorwegnahme, dass das Wesen der menschlichen Persönlichkeit im Wesen der Allnatur enthalten ist. Durch alle bizarren Zauberfetische, Götzen, Geister und Götter sind wir empor gedrungen zu der „Mutter“ Natur, deren wesensverwandte Kinder wir sind; zu dem „lebendigen“ Universum, dem „Allwesen“, dem „Weltorganismus“, dem Makrokosmos, aus dem wir als gleichartige Teilwesen, als Mikrokosmen entspringen. Der persönliche und personifizierende Faden zwischen uns und allen Dingen spinnt sich bis heute und immerdar zwischen unserem Ich und dem großen „Du“ der Allnatur, des Unendlich-Einen. Unser ganzes Denken, Fühlen, Wollen, unsere Passivität und Aktivität lebt und webt in diesem Faden unmittelbarer Beziehungsnahme zwischen Ich und All, zwischen dem Individuum und dem umfassenden Sozialwesen der Gesamtwelt, und diese Beziehungsnahme ist: Religion. Nach Ratzels Wort und nach einleuchtenden Tatsachen berühren sich die Wurzeln der Religion mit denen der Wissenschaft, weil der Trieb zur Kausalität, zur Speku-lation, zur Erforschung der Dinge und Weltzusammenhänge beiden eigen ist. Aber man muss sogar weiter-gehend sagen, dass die Wurzeln der Wissenschaft direkt in der Religion liegen. Der Spekulations-, Denk- und Forschungstrieb erwacht in ihr. Deshalb gehen auch die Einzelwissenschaften aus ihr hervor. Zauberer und Fetischpriester waren die ersten „Medizinmänner“. Aus Wunderheilungen, Gebetsaberglauben und Sympathiekuren hat sich allmählich die wissenschaftliche Medizin entwickelt und ringt deshalb bis heute mit jenen primitiven Erscheinungen. Aus dem Sonnen-, Mond-, und Gestirnkultus ist die Zeitrechnung nach Tagen, Monden, Jahren samt der (babylonischen) siebentägigen Woche, ist die Beobachtung der Gestirne, Sternenkunde, Astrologie und Astronomie hervorgegangen; ähnlich die Chemie aus der Alchemie. Als Zauberzeichen und Darstellungen von Zaubergesängen sind die Bilderschriften erwachsen, die zur Hieroglyphen- zur Keil- und Buchstabenschrift, zur Schriftsprache als Grundlage aller Wissenschaft wurden. Anfänge historischer Erinnerungen konnten aus bildlicher Verherrlichung besonderer Zaubertaten und Wunderhelden sich gründen, wie die spätere Geschichtsschreibung sich aus religiösen Helden- und Göttersagen zu klarerem Bewusstsein herausschälte. Religiöse Spekulationen, Götterlehren und Weltschöpfungssagen sind der Anfang der Philosophie und haben in Ägypten, China, Indien, Griechenland usw. die philosophischen Systeme vorbereitet. Nur wegen dieser engen inneren Verwandtschaft der religiösen Spekulation mit der philosophischen und naturwissenschaftlichen Forschung geht die Auseinandersetzung zwischen der einen und der anderen bis heute leidenschaftlich fort. In den Kämpfen empfindet man begreiflicherweise nur einseitig stark die feindseligen Gegensätze und vergisst des verwandten, gemeinsamen Untergrundes in der spekulierenden Menschheitsnatur, durch welchen allein jene heiß empfundenen Gegensätze zu unvermeidlichem Entscheidungsringen wider einander geführt werden. Jeder neue Glaube, der mit Naturgewalt den alten überwindet, hat eben auch etwas von religiöser Kraft und Glut in sich; ja er muss für seinen Sieg mehr davon haben, als dem alten innewohnt. In diesem Zusammenhang kann die bekannte Goethesche Definition nicht vergessen werden: „Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, der hat Religion! Wer diese beiden nicht besitzt, der habe Religion!“ Wissenschaft und Kunst werden darin als der eigentliche innere Gehalt der Religion, das Äußerlich-Konfessionelle dagegen nur als unvollkommener Ersatz, als Vorstufe der künstlerisch-wissenschaftlichen Geistesbetätigung angesehen. Es liegt auf der Hand, dass in der Wurzel der Religion nicht bloß der forschende Denktrieb, sondern auch der künstlerisch gestaltende Phantasietrieb enthalten ist. Darauf weist ja schon die Lust, zu personifizieren, Urheber als Ursachen anzunehmen, weil man zunächst das eigene Wollen und Tun des Ichs als Ursache für allerlei Geschehen kennt und in die Natur hinein trägt. So sehen wir denn weiterhin alle Religionen entsprechend ihren weltanschaulichen Grundlagen als Kunstschöpferinnen. Von den entschwundenen Religionen ragen noch die Tempel, Grabbauten, Götter- und Götzenbilder, leben noch die Sagen und Mythen als unvergängliche Poesie der Menschheit. Und in den gegenwärtigen Religionen ist es vornehmlich die Kunst, die ihren unwiderstehlichen Zauber in Domen, Bildwerken, Gesang, Musik und symbolischen Formen auf die Menschen ausübt, selbst wo das Denken sich von alten Vorstellungen emanzipiert hat. Aber es sei auch nochmals darauf hingewiesen, wie die denkende Weltbetrachtung selber bis heute des künstlerischen Gestaltens, der schöpferischen Phantasie unmittelbar bedarf. Es gäbe ja gar kein Welt-„Bild“, keine Welt-„Anschauung“ ohne jene. Die Wissenschaft hat uns immer mehr grenzenlose Unendlichkeit eröffnet, in welcher wir mit „reiner“ Vernunft, mit Kants „diskursivem Denken“ einfach schwindelnd vergehen, uns haltlos ins Unfassbare auflösen. Unsere Gedanken versagen. Fremde, kalte Wesenlosigkeit des Allseins haucht uns wie Wahnsinn an. Jedoch die Phantasie vermag das Unfassbar-Viele, Zerfließende mit urwüchsig-genialer Kraft zu dem Unendlich-Einen, zum lebendigen Universum, zu der uns innig nahen, wesensverwandten, trauten „Mutter“ Natur intuitiv zusammenzufassen. Sie stellt unser kleines „Ich“ dem großen „Du“ des Alls gegenüber, dessen Unendlichkeit auch in uns wohnt. Sie rettet den Geist vor dem Zerfall des rein-begrifflichen Denkens, das sonst in der Verzweiflung ewigen Nicht-Begreifen-Könnens sich selbst unmittelbar vernichtet. Mit Recht betont Spinoza das „intuitive Denken“ in seinem höheren Wert, das Denken, das auf Anschauung gegründet, von Phantasiekraft getragen ist. Und wenn schon alles Denken dieser Hilfe bedarf, so besonders dasjenige großer Forscher, Entdecker und Erfinder auf dem Gebiet der Wissenschaft und Wahrheit, die neue Bahnen eröffnen. Deren Prophetenkraft berührt sich mit dem Schaffen des großen Künstlers, der in Stein- und Bild- und Tonwerken den Kosmos, den Weltsinn aus sich widerstrahlt; desto wahrer, je stärker sein Kunstgenie ist. Oder ob ein Beethoven sein Ohr nicht ebenso nahe ans Herz der Natur legt, ihren Pulsschlag zu fühlen, ob seine Sprache das Wesen des Alls nicht ebenso gewaltig offenbart, wie es der Philosoph, der Forscher auf seine Weise tut? Als wunderbares Resultat der in der Neuzeit erst möglichen völkerkundlichen, entwicklungs-theoretischen Sprachforschung erhebt sich die, in die Grundlagen des Denkens erst tief hineinleuchtende, Einsicht, dass auch unsere Wort- und Begriffssprache, die man gerne „abstrakt“, losgelöst für sich, als reine Funktion des bewussten Geistes auffasst, dass auch sie aus der elementaren Empfindungswelt, aus stärksten Eindrücken und sinn-lichen Anschauungen hervorgegangen ist. Später erst werden die abstrakten Allgemeinbegriffe als Zusammenfassungen vieler konkreter Einzeleindrücke geboren. Sie schweben nicht in geistigem Für-Sich-Sein, kommen nicht aus einer naturfremden Welt, sondern beruhen so unlöslich auf der sinnlich empfundenen und gefühlsmäßig widergestrahlten Wirklichkeitswelt, wie die Ausdrucksformen und die Sprache der Kunst-Welt, mit welcher die „Ideen“-Welt also wurzelhaft verwandt ist. Auch die modernste, psychoanalytische Philosophie deckt immer mehr auf, was schon der „Philosoph des Unbewussten“ Eduard von Hartmann u. a. mehr oder minder deutlich anerkannt haben, dass unser Bewusstsein nur ein integrierender Bestandteil unseres gesamten Geisteslebens, nicht trennbar vom Unbewussten in uns, vom dunklen Trieb- und Gefühlsleben ist. „Es denkt in mir“, sagt Nietzsche (vgl. auch Lange : Gesch. des Materialismus [I, S. 229]) und Sigmund Freud weist in seiner Schrift „Das Es und das Ich“ 1923 auf die Herrschaft des „Es“ über das „Ich“ hin, dass in dem dunklen „Es“ wiederholte frühe Erlebnisse des Ichs, unbewusste Erinnerungen sogar aus früheren Generationen, fortwirken, woraus das Ich sein „Über-Ich“ schöpfe usw.(S. 46, 61). Ja, Freud weist auch in der oben angedeuteten Richtung neuzeitlicher Sprachforschung darauf hin, dass das „Denken in Bildern“ dem Unbewussten näher stehe und jedenfalls onto- und phylogenetisch älter und ursprünglicher sei, als das „Denken in Worten“ (Ebenda S. 21). Eigenartig ist der Umstand, dass gerade die abstraktesten Allgemeinbegriffe des ausgebildeten Denkens: Wahrheit, Freiheit, Gerechtigkeit, Glück, Frieden usw., weil sie keinen konkreten, anschaulichen Gegenstand bezeichnen, eben deshalb umso mehr und in ganz besonderer Weise durch die Kunst anschaulich gemacht und nach uraltem, religiös wirksamem Personifikationstrieb als menschenähnliche Idealgestalten gedacht und geformt werden. So kommt die Phantasie in der höheren Ideenwelt dem abstrakten Denken ganz besonders zu Hilfe, um es mit Anschaulichkeit und Bildhaftigkeit zu erfüllen. Denken und Empfinden, Vernunftforschung und Phantasie, Wissenschaft und Kunst hängen in jeder Weise und vielleicht noch tiefer zusammen, als Goethe gemeint hat, wenn er das gegebene Zusammensein der beiden Geistesmächte direkt „Religion“ nennt. Umso bedeutsamer und vielsagender erscheint dann heute die Anwendung dieses fürs Menschenleben geltungsschweren Wortes auf die Ineinanderwirkung des denkenden und künstlerischen Erlebens als auf ein originales großes Eigenmoment im Geisteswesen. Und doch fehlt dabei noch etwas Wichtiges, Drittes, mit dem man sich im Namen der Religion auch noch unbedingt auseinandersetzen muss, nämlich das Gebiet der Moral, das von Goethe in jener Zusammenstellung eigenartigerweise ganz unerwähnt gelassen wird. Entfließt einer „religiösen“, künstlerisch-wissenschaftlichen Weltbedeutung nicht auch immer und notwendigerweise eine entsprechende Sittengesetzgebung? Die Vertreter des Kirchenglaubens binden die Moral ganz streng an ihre konfessionellen Lehren von Gott dem Gesetzgeber und Richter im Jenseits usw. Daher die Drohungen: Mit dem Glauben schwindet die Sittlichkeit! Moderne Ethiker u.a. Forscher erklären dagegen bestimmt: die Moral ist ihrem tiefsten Wesen nach durchaus unabhängig von der Religion. Vielleicht war aus ähnlicher Voraussetzung in dem eben zitierten Goethewort von der Moral gar nicht erst die Rede, wenn es die Religion definierte. Kant sieht in der Religion unsere „Erkenntnis aller Pflichten als "göttliche Gebote“. (Kritik der praktischen Vernunft. Reclam-Ausgabe, S. 50) „Moral also führt unumgänglich zur Religion, wodurch sie sich zur Idee eines machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen erweitert, in dessen Willen dasjenige Endzweck (der Weltschöpfung) ist, was zugleich der Endzweck des Menschen sein kann und soll“ (Die Religion, Reclam-Ausgabe, S. 6). Aber die Moral gründet sich bei Kant nicht auf die Religion; „sie bedarf zum Behuf ihrer selbst keineswegs der Religion“; der moralische Mensch „bedarf weder der Idee eines anderen Wesens über ihm, um seine Pflicht zu erkennen, noch einer anderen Triebfeder, als des Gesetzes selbst, um sie zu beachten“ (Ebenda S. 3). Auch wer nicht an Gott und Jenseits glaubt, wie etwa Spinoza, will als rechtschaffener Mann aus eigenem Gesetz das Gute stiften. (Kritik der Urteilskraft, Reclam-Ausgabe, S. 349) Ja, Kant hält sogar die theoretische Gewissheit vom Dasein Gottes ausdrücklich dem moralischen Handeln fern. Wenn man Gottes „furchtbare Majestät“ vor Augen habe, geschehe die Gesetzesbefolgung zumeist aus Furcht, weniger aus Hoffnung und gar nicht aus reiner pflichtmäßiger, moralischer Gesinnung (Kritik der praktischen Vernunft, S. 176). Doch nicht
bloß von Kant her, der schließlich unter Religion speziell die christliche
Religion versteht, wird die Moral als fundamental selbständig gegenüber der
Religion erklärt, sondern der Ethiker Prof. v. Gizycki
beruft sich dafür in seiner „Moralphilosophie“ (S. 333 f.) auf das hochbedeutsame Waitz-Gerlandsche
Werk „Anthropologie
der Naturvölker“ und
zitiert daraus: „Sittliche Vorstellungen pflegen mit den religiösen Das Gewissen ist keineswegs eine geheimnisvoll originale göttliche Stimme, die zur Moral und Religion führte, sondern ist selbst ein wechselreiches Produkt der natürlichen Geistesentwicklung mit entsprechender moralischer und religiöser Färbung, das sich seinerseits erst aus dem Gang der moralischen und religiösen Vorstellungen erklären lässt. Dazu gehört aber jene Furcht vor Übertretung abergläubischer Gebräuche, die ein Vorspiel von Gewissensregungen, Gewissensbissen enthält. Waitz deutet an, dass die Beispiele solch komischer verbotenen Sünden unerschöpflich zahlreich sind. Das entspricht den Tatsachen. Bei australischen Stämmen galt es als zauberhaft strafbar und gefährlich, in der Nähe eines Felsens zu pfeifen oder Teile des eigenen Körpers, abgetrennte Haare, Nägel u. dgl. in die Hände eines anderen gelangen zu lassen. Indianern und Negern war verboten, bestimmte Tiere zu töten, bestimmte Spuren zu überschreiten, bestimmte Worte auszusprechen, auf die Erde zu spucken usw. „Sittliche Vorstellungen„ nach heutigem Maßstab konnten die Naturmenschen damit freilich nicht verbinden, weil sie solche noch gar nicht besaßen. Aber es ist auch ein naiv verkehrter Standpunkt, Produkte späterer Geisteskultur schon gleich am Anfang, im rohen Naturzustand halbtierischer Barbarei, überhaupt für möglich zu halten und zu erwarten.[1] Die Moral als ideale Vorstellungs-, Pflichten- und Gefühlswelt darf nicht bei Kamtschadalen, Australiern und Buschmännern gesucht werden. Dort kann sie nur in kaum erkennbaren Vorstufen, Vorbereitungen und Keimen sich andeuten. Und eben das leisten jene zahllosen abergläubischen Gewohnheitsbräuche. Der tierisch „wilde“ Mensch voll hemmungslos leidenschaftlicher Triebe, von keinerlei Erziehungsweisheit geleitet, musste zunächst nicht theoretisch hohe Sittengebote, sondern praktisch irgendwelche Bändigung seiner absoluten Willkürselbstsucht lernen, die Bestie in sich zähmen, Selbstbeherrschung und strenge Beobachtung seiner Handlungen üben, sich an die Befolgung irgendwelcher zwingender Vorschriften und Gesetze gewöhnen, voll bewusster Zurückhaltung auf dieses und jenes Alltagstun verzichten, also sich immerfort Zügel anlegen. Das war die Vorübung zur Moral, die aus dem primitivsten religiösen Aberglauben her stammt. Man denke an die Fingerübungen des Kunstanfängers, die keineswegs schon „Musik“ sind, aber für später die Musik ermöglichen. So sind jene tausenderlei abergläubischen Gebräuche eine tausendfache, tägliche Gewöhnung an die bloße „Technik“ der Selbstbeherrschung, Selbstzucht, Selbstdisziplinierung, ganz ohne Rücksicht auf den in unserem Sinne geltenden moralischen Wert der betreffenden Handlungen oder Unterlassungen. Im Übrigen liegen auch schon Keime der als Lebensnotwendigkeit sich immer öfter aufdrängenden Gebote: Du sollst nicht lügen, stehlen, töten! in der primitiven Fetischreligion immerhin doch enthalten. Das Anrufen und Beschwören des Fetischs machte einen Vertrag, ein Versprechen heilig und gewiss, dass die moralisch unzurechnungsfähigen „Wilden“ dies[en]falls sich auf gegenseitiges Innehalten des Beschworenen verlassen konnten. Der Zauber eines Fetischs schützte die Hütte mit dem Eigentum darin vor Diebstahl; er schützte auch Leib und Leben eines Fremdlings, machte ihn „tabu“ oder sonst unverletzlich, wie bei den Indianern durch die religiöse Zeremonie der Friedenspfeife. (Schulze, Fetischismus (S. 106) Wenn also später die Götter der Kulturvölker als Hüter der Eide, der Schutzflehenden, der Gesetze auftreten, so ist das schlechterdings kein neues In-Beziehung-Treten moralischer Vorstellungen zu religiösen, wie Waitz meint, sondern die direkte Fortsetzung der schon im Fetischismus mit verbreiteten Moralität. Von da geht es also über die antike Götterverehrung bis zur christlichen Moral, die auf dem Gottes- und Jenseitsglauben basiert. Nun fragt es sich, ob die moderne, natürlich-menschliche, autonome Moral als „reine“ Moral völlig für sich steht, losgelöst von den anderen Geistesgebieten und sonach von der „Religion“. Da ist den Ethikern, die von Neutralität der Weltanschauungen gegenüber der Moral sprechen, zunächst zu erwidern, dass auch die so genannte natürliche, menschliche Sittlichkeit durchaus von der Weltanschauung abhängt. Die christliche Weltanschauung leugnet ja die angeborene ethische Höhenkraft im Menschen, der als Sünder von Natur dem Bösen und der Verdammnis verfallen ist. Fichte ruft in seinen "Reden an die deutsche Nation" leidenschaftlich aus: „Es ist eine abgeschmackte Verleumdung der menschlichen Natur, dass der Mensch als Sünder geboren werde.“ Dieser Protest gegen die christliche Auffassung stammt aus der Gefühlswandlung, die sich besonders seit Rousseaus „Rückkehr zur Natur“ dokumentiert und den Glauben an das Gute im Menschen pflanzt; eine Gefühlswandlung, die wieder mit der Naturwissenschaft und von Giordano Bruno, Spinoza, Goethe begründeten neuen Verehrung der Allnatur, der „Gottnatur“ zusammenhängt. Mit dem neuen Weltbewusstsein erhob sich ein neues Menschheits- und Selbstbewusstsein, eine neue „religiöse“ Stimmung. Die autonome Moral wird letzten Grundes von dem autonomen Weltall gepredigt, in welchem kein absoluter Herr die Gesetze gibt und mit Lohn und Strafe wahrt. Die für unser Bewusstsein auf den Thron der ewigen Allmacht gestiegene Natur lässt aus ihrer Gesetzmäßigkeit auch die Menschheitsentwicklung hervorgehen, auch das Menschenleben mit all seinen innerlich notwendigen Gestaltungen quellen. So wohnt der Gesetzestrieb naturnotwendig in des Menschen Haupt und Brust und hat sich von je im steten engsten Zusammenhang mit den jeweiligen weltregierenden Mächten gefühlt und betätigt, indem er sich erst den Launen von Fetischen und Göttern, dann dem Willen eines Weltschöpfers, zuletzt der ehernen Ordnung des Universums fügt. Doch lassen wir zunächst die Abhängigkeit der Moral von der „Religion“ als einen problematischen Begriff noch dahingestellt, indem wir nur annehmen, dass die Ethik natürlicherweise jeweils von einer Weltanschauung bedingt ist, aus welcher die grundlegenden Sanktionen des jeweiligen sittlichen Handelns fließen! Für den Freigeist kann es sich doch nur um die wissenschaftliche, nicht um irgendwelche abgetane religiöse Weltanschauung handeln, welche das Prinzip sittlicher Gesetzgebung fundamentiert. Der sokratische Gedanke, dass die Moral sich auf Einsicht gründet, vertieft sich dann in der Neuzeit dazu, dass wir aus neuer Einsicht in den ganzen Weltzusammenhang auch unser Leben nach weltweiter Vernunftweisheit ordnen und aus denkender Überzeugung recht und gut handeln wollen. Von „Religion“ braucht dabei nicht die Rede zu sein. An Stelle der Religion tritt einfach die vernünftige Welt- und Lebensanschauung. Sehr wohl! Dann fällt uns aber vielleicht eine entsprechend abgeänderte Fassung des vorhin behandelten Goethewortes ein: Wer eine vernunftmäßig wohl begründete Welt- und Lebensanschauung, „wer Wissenschaft und Moral besitzt, der hat - Religion“! Verdient der hochwichtige fundamentale Zusammenhang im Menschen-Inneren zwischen denkender Weltbetrachtung und sittlicher Lebensgestaltung nicht auch, mit einem besonderen Wort gekennzeichnet, in einem besonderen Begriff empor gehoben zu werden? Ähnlich wie Goethe das Zusammenweben von Wissenschaft und Kunst eben Religion nennt? Und da blitzt uns jetzt auf: Dieses Zusammenweben und Ineinanderwirken der fundamentalen menschlichen Geisteskräfte erhebt sich zu noch höherer Bedeutung, größerer Kraft und reicherer Verknüpfung, wenn uns einleuchtend entgegenkommt, dass ja der Denktrieb ebensowohl mit dem Kunsttrieb, wie andererseits desgleichen auch mit dem Moraltrieb innerlich in Beziehung steht; dass also nicht nur diese oder jene zwei, sondern alle drei Grundkräfte des Menschengeistes neben ihrer selbständigen Geltung eine urwüchsig wurzelhafte Verbundenheit an sich haben! Nicht nur
eine Doppelgliederung, sondern eine Dreigliederung des geistigen Trieblebens
steht vor unseren Augen; nicht drei verschiedene Triebkräfte, die zusammenhangslos
jede für sich gehen, sondern die im einigen Menschengeist zu einer
dreigegliederten einigen Gesamtkraft verschmelzen. Welch ein großes Resultat
der Untersuchung ist es: Hand in Hand miteinander Wir sahen
soeben, wie fundamental der denkende Vernunfttrieb mit dem Moraltrieb
verbunden ist; vorher: wie eng der denkende Vernunfttrieb desgleichen mit dem
künstlerischen Phantasietrieb sich paart. Indirekt stünde demnach schon durch
die denkende Spekulation auch die Phantasie mit der Moral in innerer
Beziehung. Aber das gilt noch viel mehr in direkter Weise. Darauf müssen wir
noch einen Blick werfen, um die wurzelhafte Verbundenheit der drei geistigen
Grundkräfte noch klarer und tiefer zu erfassen und um insbesondere auch den
fürs ganze Geistesleben elementaren unentbehrlichen Es seien einige Zeilen hierher gesetzt, welche Verfasser dieses in der Vorrede zu seinem Lehr- und Lesebuch „Volkstümliche Religionskunde (E. Oldenburg, Leipzig) schrieb: „Wer nicht bloß als trockener Pflichtmensch automatisch sittliche Korrektheit betätigen, wer die Moral aus stets lebendigem Empfinden und Bewusstsein schöpfen, wer echtes Mitgefühl, Mitleid, Mitfreude mit dem Anderen haben, sich immer tief in die Seele des Anderen hinein versetzen will, um ihn leicht und ganz zu verstehen, der bedarf dazu der feinsten, stärksten und geübtesten Phantasietätigkeit. Der Phantasielose kann die Urgebote der Moral schwer erfassen: Versetze sich in die Stelle des Anderen! Denke, der Andere, „das bist du!“ Liebe deinen Nächsten als dich selbst! Wenn die stete zart sinnige Einfühlung in Wesen und Rechte des Mitmenschen feinste Blüte der Phantasie ist, so ist es letztere desgleichen, die dem sittlichen Streben Idealbilder, Zukunftsgesichte, Menschheitsparadiese, Kinderlands-Ziele vorzaubert und so Hoffnung, Begeisterung, Opferfreudigkeit schafft bis über den Tod hinaus. Der Phantasielose entbehrt wiederum dieses lebendigen, feurigen Schwungs in der Moral.“ Welch ungeheuren und diesfalls meist unheilvollen Einfluss auf die Moral hat nicht die Phantasie betätigt, indem sie die Bilder des christlichen Jenseits, des Jüngsten Gerichts, des Himmels und der Hölle schuf und dieselben in ungezählte Millionen Herzen prägte! Liegt nicht auf der Hand, dass die ungeheure Kraft dieser Vorstellungen nur durch andere höherwertige Vorstellungsbilder gebrochen und ersetzt werden kann! Wir sehen und fühlen und nehmen daran teil, dass die Massen ihre Phantasiewelt im tiefsten Grunde zu einem neuen Lebens- und Sterbensziel umwandeln, zum „Himmel auf Erden“ wie Fichte verkündet; zum Aufgehen „im Ganzen“ bis über den Tod hinaus, nach Schillers Wort. Bilder der Erdenseligkeit malen sich vor Millionen dürftiger Augen; der Erdenseligkeit, die jeder Ringende nur zum kleinen Teil für seine Person, zum größten Teil für seine Enkel und Urenkel, fürs künftige Kinderland erwartet und voll heißer, beglückender Inbrunst erhofft. Der elterliche Vater- und Mutter-Instinkt, der den Kindern durchaus ein „besseres Leben“ schaffen will, spricht damit ins Große, Menschheitsgeschichtliche hinein und kann eine größere psychologische Kraft gewinnen, als die christlich-egoistische Jenseitsfürsorge, weil erstere auf gesund-natürlichem, realen und edlerem Grunde beruht. Die „Erlösung der Menschheit“ bleibt als heiß erstrebtes, notwendiges Ziel bestehen. Aus der Fata Morgana des Jenseits senkt sie sich auf den Wirklichkeitsboden des Diesseits. Aus der krankhaft-schwächlichen Atmosphäre des Flehens um Gnade, um die entscheidende Hilfe von oben, tritt sie in die kräftigende Luft des Schaffens aus eigener Kraft, der Selbsterlösung, die der Einzelne für sich und Hand in Hand mit der Gesamtheit zu vollbringen hat. „Erlösung vom Übel“! Klingt als Programm dieser neuen Religiosität nicht nur ebenso stark, sondern noch viel eherner, fordernder und verheißungsvoller, als es in der alten Religion erklang. Phantasie schuf zuerst den modernen Sozialismus, den utopischen, der sich unter dem korrigierenden Einfluss der Vernunft und Erfahrung erst zum wissenschaftlichen umwandelte. Und wie Phantasie mit Sittlichkeit und Vernunft im Bunde das Reich der „Erlösung“ baut, so schafft sie in demselben Bund auch den religiösen Begriff des „Heiligen“. Das Schöne, sofern es zugleich vom Guten und Wahren an sich hat, leuchtende Ideale herrlich vor Augen stellt, dieses Schöne wird zum Heiligen. „Heilig“ ist so das geforderte allgemeine Menschenglück, „heilig“ das Menschenrecht, „heilig“ die Freiheit, „heilig“ die Liebe, „heilig“ der Erdenfriede, „heilig“ wird die Wahrheit und die Sittlichkeit, weil sie zugleich im Glanz der Schönheit erstrahlen, „heilig“ die Natur, die über alle Furchtbarkeit hinaus zu erhabener Harmonie zusammen klingt. Künstlerisch verzückt schildert Plato in seiner „Republik“ die beseligende „Schau“ des Guten und wie das Schöne ins Gute sich „flüchtet“. So erklärt sich's auch, dass die gewaltigen Höhen der Kunst weithin von der religiösen Kunst eingenommen werden, welche die weltanschaulichen und ethischen Ideale der Zeit im Gewand der Schönheit verkörperte und dadurch die stärksten, unvergänglichsten, „heiligsten“ Eindrücke hervorbrachte. Man denke nochmals an die Götterbilder, Tempel und Poesien der alten Ägypter und Inder, des klassischen Griechentums, der Renaissance bis auf die Neuzeit! Noch ein
weiterer erhabener Begriff quillt aus der religiösen Verknüpfung des
Wahrheits-, Schönheits- und Sittlichkeits-Triebes. Auch dieses Begriffs kann die Menschheit nicht entbehren, und die heutige bedarf seiner ganz besonders, um aus kalter, nüchterner Blasiertheit, aus geschäftsmäßig berechnendem rohen Egoismus, aus hässlicher Seelenzerissenheit zu warmer Seelenfreude und empor ziehender Begeisterung zu kommen, um eben die „Lebensweihe“ stets und praktisch stark zu fühlen. Schleiermachers schönes Wort in seiner zweiten Rede über die Religion findet hier seine Geltung, dass die Religion dem Menschen ununterbrochen „wie eine heilige Musik sein tätiges Leben begleiten und er nie und nirgends erfunden werden soll ohne sie.“ Steigt nicht dem verhärtesten Gegenwartsmenschen ein sehnender Seufzer auf, dass er wohl gern solch gleichsam musikalischer Weiheempfindung für das ganze Dasein fähig sein möchte? Und regt sich's ihm dann nicht, wie eine erwachende Freude, dass aus den tiefsten Tiefen des urnatürlichen Geistwesens die unausrottbare Anlage zu weihevoller, heiligender, erlösender Lebensführung einem Jeden empor steigt, dass er auch heute und immerdar noch Ehrfurcht vor dem Ewigen, „Religion“ in sich hat und haben darf? Sie ist nach einem anderen Worte Schleiermachers „Geschmack fürs Unendliche“, der also über den faden Geschmack des Bloß-Alltäglichen erhebt. "Religion haben, heißt das Universum anschauen.“ Aus höchster Schau sein eigenes Dasein zu betrachten und zum Allsein hinauf zu knüpfen, drängt's dazu nicht jede Menschenbrust? Nicht bloß den Kopf, nein erst recht auch das Herz? Man kehre jetzt noch einmal zurück und lese wiederholt die früheren Darlegungen, wie Schleiermacher, Kant, D. F. Strauß, Feuerbach, Ratzel, Büchner, Haeckel etc. das Wesen der Religion so verschiedenartig definiert haben, wie dafür der wissenschaftliche Trieb, nach Ursachen zu fragen, die Einbildungskraft, welche zunächst Urheber statt Ursachen setzt und intuitiv gern personifiziert, wie der Trieb nach Wohlbefinden, das Abhängigkeitsgefühl, die Anerkennung unserer Pflichten als göttliche (kosmische) Gebote, das Furchtmotiv, das Wunschmotiv, wie das alles urwüchsig von selbst zusammennimmt nach unserer neu gefundenen tieferen Auffassung der Religion, weil diese eben das gesamte menschliche Denken, Fühlen und Wollen mit originaler Kraft so wunderbar einheitlich zu einer neuen höheren, der höchsten Geisteskraft zusammen glühen lässt. Ich kann die Religion auseinander legen, statt ihrer sagen: Wissenschaftliche Weltanschauung, sittliche Lebensgestaltung und ästhetische Daseinsdeutung, aber damit mache ich eben viele Worte, setze nur verschiedene komplizierte Begriffe nebeneinander und löse ihr gewaltiges Ineinanderwirken sprachlich auf, drücke das Beste nicht aus. Dieses braucht durchaus und durchaus ein eigenes allbedeutendes Wort, so wie in der „Religion“ uns von je unbewusst und nun bewusst alle Geistestriebe zusammenklingen, alle Geisteskräfte zusammen schwingen. Das eine kleine Wort „Religion“ ist unersetzbar! Die
Totalität des menschlichen Seelenwesens musste je und je mitschwingen, wenn
der Mensch sein Ich über das Tier-Sein erhob. Wir sahen oben, dass in der
Religion das erwachende „Ich“ sich von Uranfang urwüchsig in die Dinge hinein
trug, phantasiestark dieselben personifizierte, um eine unmittelbare
Erklärung für auffallende Geschehnisse zu haben, wie es sich in Furcht vor Am
drastischsten kommt die letztbezeichnete Reaktion gegen das „schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl“ wohl zum Ausdruck,
wenn der Fetischgläubige seinen vergeblich angerufenen Fetisch bedroht,
prügelt, wegwirft oder zerstört. Mit der fortschreitenden Erhöhung seines
Ich-Persönlichkeits-Bewusstseins erhöhte der Mensch auch die Persönlichkeit
seiner Götzen und Götter, bis er in dem allwaltenden einen Gott die Persönlichkeit
schwindelnd hoch über die ganze Welt und Natur hinauf drängte. Das
Christentum rühmt sich demnach, den Begriff der menschlichen Individualität,
der unsterblichen Menschenseele einzigartig erhöht zu haben. Dieser
übertrieben, unnatürliche Persönlichkeitskultus schlägt aber zum Schaden, zur
Erniedrigung für die reale menschliche Persönlichkeit um, weil diese nunmehr
ihre schlechthinnige Abhängigkeit von der
allmächtigen Persönlichkeit Gottes, „des Herrn“, fühlt und betätigt, weil sie
also persönliche Unwürdigkeit und Unterwürfigkeit von einer anderen, allein
heiligen, gebietenden Persönlichkeit Dabei geht aber auch in Gott selber die Größe der Persönlichkeit verloren. Seine Allmacht, seine Allweisheit, seine Gerechtigkeit und Allgüte versagt schauerlich angesichts des Bösen in der Welt, vollends vor dem Bild einer endlosen Hölle und Verdammnis. Ewige Kraft wird zu ewiger Ohnmacht, ewige Liebe und Barmherzigkeit zu ewiger Unbarmherzigkeit, ewige Gerechtigkeit zu ewiger Ungerechtigkeit, ewige Seligkeit der „Gesegneten“ zu einem Wahn des unmenschlichen Egoismus. Moralisch, intellektuell und ästhetisch bricht das überkommene Persönlichkeitsideal zusammen, weil ein neues, höheres „religiöses“ Selbst- und Weltgefühl empor steigt. Der neuzeitliche Protest gegen die christliche Religion wird durchaus von einem unendlich erhöhten und verfeinerten Ichbewusstsein getragen, das über den rohen Absolutismus der Persönlichkeit zu ihrer wahren Würde und Kraft empor drängt. Freiheit von Person zu Person wird errichtet mit Abhängigkeit nicht von dem „Herrn“, sondern nur von dem überpersönlichen autonomen Allgesetz. Nicht Gnade, sondern Recht wird zur Losung. Die bloße Idee der Persönlichkeit setzt schon das komplizierte Gewebe der Gesetzmäßigkeit voraus. Es ist eine ungeheuer naive Vorstellung, dass die göttliche Person dem Prinzip nach das Gesetz geschaffen habe, also vorher an sich ohne Gesetzesbedingungen zu denken sei. Die Gesetzlichkeit stammt nicht von der Person, sondern die Person aus der Gesetzlichkeit. Damit gewinnt sie ihr unantastbares Innenrecht und ihre Innenstärke, ihre fundamentale Würde, die nicht auf unerklärlichem Absolutismus und Willkürprinzip, Herren- und Knechtstum beruht, sondern auf ewiger Verfassung des Weltenalls. Die Natur hat den Thron der Gottheit, der Allmacht bestiegen, ist zur „Republik“ geworden. Dieser ungeheure Prinzipien- und Gefühlswandel dokumentiert sich in den Programmworten: Gott gleich Natur! Deus sive natura! Gottnatur! welche [als] Losung von einem Giordano Bruno, Spinoza, Goethe, Schiller usw. so stark betont wird. Ganz ähnlich kommt der Wandel vom monarchischen zum republikanischen Prinzip und Empfinden am knappsten und kräftigsten zum Ausdruck, wenn die Besteigung des Thrones der Souveränität durch das gesamte Volk etwa symbolisch gekennzeichnet wird durch die Redeblüte „König Volk“. Aus Untertanen will ein souveränes, „königliches“ Volk werden. Das entspricht genau dem Bild „Gottnatur“, „göttliche Natur“. Im symbolischen, bildlichen Ausdruck lässt sich eben oft eine Fülle von Gedanken wunderbar kurz und anschaulich zusammengesetzt aussprechen, die sonst erst einer ganzen Reihe von Sätzen zur Erklärung bedarf. Und damit wird ein Prinzipienwandel auch am radikalsten gekennzeichnet. Wenn ein ganzes Volk in Wahrheit sein eigener „König“ ist, da ist ein einzelner persönlicher König am gründlichsten mit allen Fasern und Wurzeln unmöglich gemacht und entschwunden. Wenn die Natur wahrhaft auf dem „göttlichen“ Thron der Ewigkeit und Unendlichkeit, der Allmacht und Allgegenwart herrscht und leuchtet, dann ist die Existenz eines persönlichen Gottes am gründlichsten aufgehoben, fürs ganze Denken, Fühlen und Wollen des Menschen. Der entscheidendste und durchschlagendste
Beweis gegen das Dasein irgendeines Gottes, ob er Herr Zebaoth, Allah, Wotan
oder Zeus heiße, liegt ja in dem selbstverständlich gewordenen Bewusstsein,
dass jede Gottheit nur bildlich und bildhaft existiert hat, als reines
Produkt des souveränen künstlerisch schaffenden Menschengeistes. All dieses
und noch mehr wird in dem tief berechtigten, vielsagenden
Bild zusammen zum Der Wandel der Religion erhebt uns zu dem unsagbaren Kraftgefühl: Der Mensch hat alle Götter geschaffen, alle Über- und Unterwelten hervorgebracht. Nicht ein elendes hilfloses Sündergeschöpf ist er vor Gott, sondern vielmehr selbst der Schöpfer Gottes mit allen darin liegenden Erhabenheiten und Schwächen. „In seinen Göttern malt sich der Mensch.“ „Denn wie der Mensch, so ist sein Gott. Darum ward auch Gott so oft zum Spott.“ Es gibt keine radikalere, kräftigere Aufrichtung des vor Gott dem Schöpfer sich selbst erniedrigenden Menschen, als ihn mit dem Bewusstsein zu erfüllen, dass vielmehr er, der Mensch selbst, der Schöpfer aller Götter ist, dass er bisher die Produkte seiner eigenen Phantasie angebetet, verehrt und gefürchtet hat, dass er nunmehr im freien Künstlertum hoch über jedem Herrgott steht. Die Aufrichtung der gebeugten, ja gebrochenen Eigenpersönlichkeit, das segensreiche Werk der neuen freigeistigen Weltanschauung, kann in ihrer tiefsten Tiefe nur eine „religiöse“ Umgestaltung sein; sie begründet nun erst die wahre, die freie Religion der Kraft und Würde, die Religion der Selbstbestimmung, der Autonomie, die Religion der Persönlichkeit, die individuelle Religion. Das kommt in dem instinktiven, modernen Bewusstsein zum Ausdruck: Jeder hat zuletzt seinen Gott, seine Religion für sich. Im feinsten Sinne gilt, recht verstanden, dann die Losung: Religion ist Privatsache, ist die eigenste innerste Angelegenheit jedes Einzelnen. Das erhöhte Selbstgefühl, der verfeinerte Individualismus entsteht aber in unlöslicher Wechselwirkung mit der steten Erhöhung des Weltbewusstseins, des Allgefühls. Das „Ich“ wächst mit dem großen „Du“ des Universums. Der Mikrokosmos nimmt an der stetig gigantischer aufleuchtenden Erhabenheit des Makrokosmos teil, mit dem es sich unmittelbar wesensverwandt, ursprünglich verbunden weiß. Neben dem höchsten Individualismus liegt in ihr das umfassendste Gemeinschaftsbewusstsein enthalten, wieder nicht unmittelbar nebeneinander, sondern Eins mit dem Anderen innig verwachsen, das Andere tragend. Das eben ist ja „Religion“, dass sie alle Triebe und Kräfte des Menschen wunderbar einig und eins werden lässt, auch das Selbstgefühl und Gemeinschaftsgefühl, Individualismus und Sozialismus, Egoismus und Altruismus. Für die Verbindungen dieser beiden gegensätzlichen Strebungen, das heißt für die eigentliche Begründung der Moral, fehlt dem modernen Bewusstsein noch die sichere Unterlage. Wie kann der Mensch ein soziales Wesen sein und sich irgendeinmal wesentlich vom Gemeinschaftsinteresse, vom sittlichen Idealismus leiten lassen, wenn als stärkster Trieb doch offenbar der Egoismus, das Selbstinteresse gilt? Hendrik de Man weist in seiner Psychologie des
Aber der „wirtschaftliche Mensch“, der sein Handeln aus dem Interessentrieb herleite, bleibe „der vollkommene Egoist und Hedonist“ (S. 91), deshalb führt er weiter aus: „Kautzkys Ethik behandelt fast jede Streitfrage der Moralwissenschaft, geht aber an der Hauptfrage der Moral selber, der Begründung des ethischen Sollens glatt vorüber. Ja die Moralwissenschaft kann nicht anders, als daran vorübergehen“ (S. 187). Das wäre trostlos, wenn man die Begründung der Moral auf wissenschaftliche Einsicht und Erkenntnis als unmöglich preisgeben müsste. Damit fehlte der Moral die stärkste, beste Stütze ihrer zwingenden Verbindlichkeit. Wir sahen aber schon weiter oben, dass die Moral tatsächlich „religiös“ auch mit dem weltanschaulichen Denken engstens gepaart ist. Nun taucht das spezielle Problem der Moralbegründung auf, wie sich der Urtrieb des Egoismus mit dem des Altruismus, der unausrottbare individualistische Eigentrieb mit dem elementaren sozialistischen Gemeinschaftstrieb vereinigen kann. Die christliche Religion neigt allzu sehr auf die Seite der absoluten Persönlichkeit, des naiv-rohen Willkür-Individualismus und Egoismus hin, wodurch das Persönlichkeitsideal schließlich zerstört wird, wie wir sahen. Der Einzelmensch mit seiner immateriellen Seele will als Individuum ewig leben, ewige Seligkeit genießen, unter Verleugnung jedes Sozialgefühls für seine zu ewiger Qual verurteilten Menschengeschwister. Denn im Jenseits gilt kein Höllenstürmendes Mitleid, kein Rettungs- und Erlöserwille mehr, der die Seligen zu den Unglücklichen triebe, um sie dem Jammer zu entreißen, vor dem alle Erdenleiden nur Kinderspiel wären. Der kieselharte Jenseits-Egoismus kommt den Frommen in der Regel gar nicht zum Bewusstsein, weil er ihm unter dem Bild verschleiert wird, dass ja gerade die Barmherzigen, welche hienieden der Kranken, Gefangenen, Hungernden, Dürstenden und Nackten sich annahmen, dass gerade diese in den Himmel kommen, und der Gedanke, dass sie dann das peinigende Mitleid mit den höllisch Gequälten gründlich abtun, bleibt dunkel unterdrückt. Unter dem Schleier dieser unwahrhaftigen Selbsttäuschung wuchert für die eigene unsterbliche Seele die selbstsüchtige Genusssucht nach Wonne, Wonne ohne Ende und um jeden Preis desto schrecklicher. Nietzsche geißelt deshalb im „Fall Wagner“ die frommen Christen als eine besondere Art genusssüchtiger „Epikuräer“, die auf Grund der „unverschämten Lehre von der Personalunsterblichkeit“ einen „Hedonismus über jede intellektuelle Rechtschaffenheit hinaus“ bekunden (Bd. VII, S. 194, VIII, 270). Ganz gleichartig erkennt W. Wundt in der unbedingten Forderung des Gläubigen, die Unsterblichkeit ewig genießen zu wollen, den „begehrlichen Egoismus“ und „egoistischen Hedonismus“ des Christen (System der Philosophie, Leipzig 119, S. 651 f.) Wenn nach der künftigen Ewigkeit hin so der roh-naive Individualismus der unsterblichen Seele einseitig gepflegt wird, so lässt die christliche Vorstellungswelt auch nach rückwärts bezüglich der Herkunft der Seele deren Erzeugung aus der schöpferischen Gemeinschaft verschwinden vor der irgendwie angenommenen Herleitung aus der absoluten Persönlichkeit Gottes. Die Frage, wann denn die Seele in das Kind hinein kommt, hat nach der katholischen Lehre des Kreatianismus sogar eine päpstliche Entscheidung veranlasst (Bull. Gregorii XIV Sedes apost. ab anno 1591), dass nämlich der männliche Fötus vom 40. Tag, der weibliche vom 80. Tag nach der Empfängnis beseelt sei; von da an werde die Abtreibung strafbar (Franz Mach, Religions- und Weltproblem, 1902, S. 374). Um des Himmels willen darf die unsterbliche Seele nicht aus der fleischlichen Zeugung, aus der natürlichen Geburt hervorgehen, sondern muss einen, ob noch so unerklärlichen, höheren, übernatürlichen Ursprung haben. Das gilt bis in die Spekulationstiefen christlicher Philosophie hinein. Jeder Mensch wählt nach Kant seine moralische Maxime, wird gut oder böse aus einem „uns unerforschlichen ersten Grunde“, „in freier Willkür vor aller Erfahrung, so dass diese unerklärliche Selbstbestimmung schon von Geburt an gilt, aber nicht etwa von der Geburt irgendwie bedingt wird" (Rel., S. 19 f). Ein absoluter „freier Wille“, ein Dualismus liegt der Kantischen Moral danach zu Grunde: „Was der Mensch im moralischen Sinne ist oder werden soll, dazu muss er sich selbst machen oder gemacht haben. Beides muss eine Wirkung seiner freien Willkür sein!“ (Rel., S. 46). Also jeder soziale Einfluss auf die innere Gestaltung der Individualität, jede soziale Bedingtheit derselben durch Abstammung, Anlage, Milieu und Lebenserfahrungen bleibt völlig außer Betracht für die immaterielle, gottgeschaffene, unsterbliche Seele, für das „intelligible Ich.“ In dem heutigen neuen Welt- und Selbstgefühl des Menschen kommt dagegen der soziale Untergrund des individuellen Persönlichkeitsstrebens einleuchtend zu stärkster Geltung. Das „religiös“ alles Denken, Fühlen und Wollen bestimmende Lebensziel liegt nicht im ewigen seligen Ichsein, sondern in der Hingabe des Ichs an das große Ganze. „Vor dem Tode erschrickst du? Du wünschest unsterblich zu leben? Lebe im Ganzen! Wenn du lange dahin bis, es bleibt.“ Dies Schillerwort kennzeichnet die wahre, uns eingeborene Daseinsbestimmung, Natur gegebene Lebens- und Sterbensweihe, hin zu erhabener Selbsthingabe an das Allgemeine. Die absolute Persönlichkeit löst ihre ewigen Ich-Schranken auf und verfließt im ewigen Strom des Alllebens. Die Unendlichkeit in diesem Erdenleben zu erfassen und „ewig sein in einem Augenblicke“, lehrt uns die wahre Religion nach Schleiermachers schönem Wort. Und wie das individuelle Leben am Ende in das Sozialleben des Ganzen hinüber strömt, so entstammt es desgleichen schon am Anfang bei seiner Entstehung durchaus der Gemeinschaft. Mit welcher Naturwidrigkeit - im wahrsten Sinne des Wortes – hat man die Entstehung des Einzelnen aus der elterlichen Zeugung blind gewaltsam hinweg escamotiert, was das eigentliche Wesen jedes Einzelnen, seine „Seele“, seinen „Geist“ anbelangt. Im dogmatischen Bann der schlechtweg vorausgesetzten Trennung von Natur und Geist hat man ganz fest, ganz fest die Augen geschlossen vor der allgemeinen elementaren Tatsache, dass aus der körperlichen Vereinigung einer väterlichen und mütterlichen Keimzelle in dem neuen werdenden Lebewesen auch die neue „Seele“ entsteht, nicht eine übernatürliche, unsterbliche, sondern eine natürliche „sterbliche Seele“, wie Nietzsche den Ausdruck prägt. Es gilt einfach, diese klare Tatsache anzuerkennen, sie religiös zu werten und mit ihr das ganze Gedanken- und Gefühlsleben zu durchdringen. Das „Wunder“ der Zeugung, das grandioseste Wunder der Welt, offenbart uns das tatsächliche unmittelbare Hervorgehen des persönlichen Individuums aus dem Elternpaar und damit weiter aus der Menge der Voreltern. Das Eine entsteht unmittelbar aus dem Vielen, von dem es sich auch stetig nährt, in welches es stetig zurückströmt. Mit dieser Tatsache muss man geradezu die untersten Grundlagen des philosophischen Bewusstseins neu gestalten und an Stelle der absoluten Einheit die alles bedingende Vielseitigkeit als letzten Fundamentalbegriff erkennen. Speziell die „absolute Einheit des Selbstbewusstseins“, diese „Lieblingsvorstellung einiger Jahrtausende“ muss beseitigt werden (Lange, Geschichte des Materialismus [II, S. 249]), dann lösen sich auch Jahrtausende alte Denkwidersprüche, wie vorliegend der anscheinend unüberbrückbare Gegensatz von Egoismus und Altruismus, Individualismus und Sozialismus, Ichtrieb und Gemeinschaftstrieb. Der seherische Dichter hat gegen den begriffsengen Philosophen Recht: „Kein Lebendiges ist Eins, immer ist's ein Vieles.“ Das menschliche Ich ist von seiner Entstehung her ein soziales Gebilde, aus väterlichem und mütterlichem Wesen zusammengeflossen; es verkörpert die lebendige Gemeinschaft schon in seinem individuellen Ursprung; es ist als rein für sich seiend gar nicht denkbar, sondern nur als wesenhaft verbunden mit anderen; der Altruismus gehört also in jedes Ich-Ego von Natur hinein, in sein Werden, in sein Leben, in sein Sterben; d. h. die Grundlage der Moral wird uns klar, ehern, fest, naturnotwendig gegeben. Das altindische Wort: der Andere „das bist du“; wie das altjüdische Wort: „Liebe deinen Nächsten als dich selbst!“ empfangen ihre Urberechtigung aus unserer tiefsten Einsicht, unserem tiefsten Gefühl, aus unserem schönsten Alltagsbild: Mutter, Vater und Kind. Höher als im Christentum wird in unserer neuen religiösen Selbst- und Welterkenntnis der Wert der aus dem lebendigen All zusammen gewobenen Persönlichkeit erhoben, und enger werden die Menschen in Eins verschmolzen. Als Kinder eines Vaters sind die Christen praktisch historisch nicht von einer Bruderseele durchhaucht, zu einer geistigen Familie zusammen geschweißt worden. Der Vater, der in der Ewigkeit seine Kinder auseinander reißt und die „vielen“ von sich weist, der hat auch im Erdenleben die Christenheit nicht zur allgemeinen Menschen- und Bruderliebe begeistern können; im Gegenteil! Das macht: Es ist zu viel Gekünsteltes, Unnatürliches im christlichen Vaterbegriff, der allzusehr den absoluten Herrn und Schöpfer in sich behält. Man bedenke doch: Dieser „Vater“ schafft seine Kinder – ohne Mitbeteiligung einer Mutter“!? das weibliche, natürliche Moment ist im höchsten christlichen Gottes-Ideal bis zur Unmöglichkeit ausgeschaltet. Gilt der Begriff „Vater“ überhaupt als solcher, wenn neben ihm keine „Mutter“ denkbar ist? Er entschwindet ja selber damit. Eher ist das mütterliche Prinzip für sich allein vorstellbar, als das bloß väterliche, denn wo im Reich des Lebens die geschlechtliche Differenzierung der Individuen noch fehlt, da tritt uns das Bild der „Mutter“-Zelle entgegen, die sich in „Tochter“-Zellen fortpflanzt. So leuchtet uns auch tausendmal lebenswahrer ein, dass wir Menschen, wie auch Tiere und Pflanzen, die Kinder einer allzeugenden Mutter, der Mutter Natur, sind, als die Kinder eines außernatürlichen, rein selbst schöpferischen Vaters. Und dieses einleuchtendere Mutter- und Kindesbild, das uns den hoffnungslos gesuchten Altruismus neben dem Egoismus, soziale Verbundenheit neben individueller Eigenart, in der Wurzel des Menschentums klar erkennbar macht, es hat auch eine tausendfach stärkere Kraft, das Brudergefühl, das Geschwisterbewusstsein in uns zu entzünden. Keine ewig auserwählten und ewig verstoßenen Kinder sprengen die Familiengemeinschaft unter sich. Zudem empfinden wir alle von der einen umfassenden Mutter her die Gemeinsamkeit des Lebensstroms, des Blutes und der Seele fürs ganze Menschengeschlecht so unmittelbar, wie es stärker nicht geschehen kann. Damit erfüllt die neue Welt- und Lebensanschauung wiederum den Beruf der „Religion“, welche sich nicht nur als innerste Privatsache und feinste Blüte des Individualismus erweist, sondern schier noch mehr als stärkste Gemeinschaftssache und Gemeinschaftsglut. Der religiöse Glaube hat seine Anhänger vielfach enger zusammen geschweißt als angestammtes Volkstum und Nationalgefühl. Gottesliebe stand über Vaterlandsliebe, aus Gründen der Ewigkeit her. Und diese allüberwindende Gemeinschaftskraft, diese elementare innerste Gemeinschaftsglut wohnt der natürlichen freien Religion noch sieghafter inne, als einem Christentum oder Mohammedanismus, die mit unglaublichen, ja verkehrten Mitteln und Vorstellungen die ganze Menschheit erobern und „Weltreligion“ werden wollten. Nicht gekünstelt, beschränkt und getrübt, sondern urwüchsig gesund, ungetrübt und alldurchdringend quillt aus dem All-Bruderbewusstsein das Familiengefühl durch den ganzen, ganzen Stamm und alle, alle Zweige der Menschheit, die von Natur durch eigene Kraft empor drängt aus der Tiefe zur Höhe, aus Nacht zu Licht, aus Barbarei zur Kultur, aus Knechtschaft zur Freiheit, aus Hass zu Liebe, aus Völkerkriegen zu Völkerfrieden, aus Glaubens- Rassen- und Klassenkämpfen zu herzenswarmer, Leben gestaltender Brüderlichkeit. Die Grundvorstellungen der wahren Religion bedürfen keiner Gewaltanwendung und Drohung, um einen Glauben zu erzwingen. Das wahre Denken braucht keine blutigen Waffen, Scheiterhaufen und Verfolgungen, um seinen Sieg aufzurichten. Zusammen mit dem menschlichen Gefühl empört es sich gegen diese barbarisch rohe Möglichkeit; es will voll edlen Stolzes und ästhetischer Freunde nur siegen, wie die Sonne siegt, die durchs Dunkel die Erde bestrahlt und zum Blühen bringt, weil ja die Erde sich ihrem Licht entgegen sehnt. Welcher Unsinnige möchte einen Frühling mit Gewalt erzwingen wollen, als ob er sonst nicht käme? Wie Sonnenstrahlen leuchten die wissenschaftlichen Erkenntnisse entzückend und beglückend von Paris und London, Berlin, New York und Tokio, über alle Kontinente und locken weiße, gelbe und schwarze Menschen ganz von selber an die besten Stätten der Forschung. Das eine
unendliche Weltall geht von selber, immer mehr, in immer heiligeren Tiefen
und Höhen, bei immer individueller Erfassung, für alle Menschen als ein und
dieselbe erhabene Macht von unendlicher wunderbarer Ordnung auf, und das
gemeinsame Menschheitsgefühl wird von Tag zu Tag stärker unter dem Einfluss der
erkannten Naturgesetzmäßigkeit, die sich durch Erfindungen, Technik und
Verkehr gigantisch ins Leben der Die „Weltreligion“ will erblühen, die wahre, die reine, die ideale Religion, aus den harten Schalen aller bisherigen Konfessionen und Einzelreligionen; die Weltreligion, die in der freiesten, mannigfachst spezialisierten Verehrung des einen und desselben Universums das ganze Menschengeschlecht durchdringen, durchglühen, zu einem fundamental gemeinsamen Denken, Fühlen und Wollen begeistern kann. Zum Gipfel der Persönlichkeitsstruktur und zum Gipfel der Gemeinschaftskultur trägt über uns die alle Kräfte entzündende, uns hoch über uns selbst hinaufhebende natürliche Religion, die aber- und abermals unersetzbar, unentbehrlich ist. Wie im ersten Teil dieser Broschüre die Stimmen ernst zu nehmender freigeistiger Gelehrter und radikaler Freidenker für die volkstümliche natürliche „Religion“ zahlreich erklangen, so sei dem zum Schluss noch ein wertvolles, beherzigenswertes Doppelzeugnis angefügt. Mit prächtigen Worten legt Dr. G. Kramer, Vorsitzender des Bundes für Geistesfreiheit, im Maiheft der „Geistesfreiheit“ 1925 „ein persönliches Bekenntnis“ ab, dem ich weiteste Verbreitung und tiefsten Eindruck wünschte. Er knüpft an ein Zitat aus „Kritik des Idealismus“ von dem monistischen Ethiker Fr. Jodl an: „Das Ideal in uns und der Glaube an die zunehmende Verwirklichung des Ideals durch uns, das ist die Formel der neuen Menschheitsreligion.“ Im Anschluss daran führt Kramer des Weiteren aus: „Also Religion nicht im althergebrachten Sinn, sondern als Menschheitsreligion; nicht Gottesdienst, sondern Menschheitsdienst: die ganze Kultur nicht Gotteswerk, sondern Menschheitswerk!“ Wir alle, ruft Kramer, können mit dieser klaren und großartigen Auffassung der Religion des hervorragenden Forschers und Denkers einverstanden sein. Da ist nichts Mystisches, Übersinnliches, sondern gesunde, klare Diesseitsgesinnung. Jodls Ausführungen liefern einen höchst beachtenswerten Beitrag zu der Frage, ob ein ganz freier Denker „Religion“ haben kann. Nach Jodl ist diese Frage unbedingt zu bejahen!“ Kramer bekennt, sich immer als „Freireligiöser“ gefühlt, aber keinen Wert darauf gelegt zu haben, ob man seine Anschauung „Religion„ nennen möge. Jetzt aber sei die Frage durch die von rechts und links kommenden Angriffe bedeutungsvoll geworden. „Es handelt sich darum: Sollen wir den Namen „Religion“ für unseren Bund ganz ablehnen? Oder sollen wir als der größte Bund in Deutschland für eine freie Menschheitsreligion gegen die christliche auf den Kampfplatz treten? Die Entscheidung ist sicher von größter Tragweite. Werden unsere Mitglieder imstande sein, das alte Vorurteil gegen die Religion zu überwinden? Werden sie den Spott und Hohn vieler, die sich stolz Freidenker nennen, mit Überlegenheit ertragen können?" In der Religion suchte der Mensch zu allen Zeiten Stellung zu nehmen zur Welt (Natur), Erde, zum Leben und Tod, zu seinen Mitmenschen. Er suchte Weltanschauung, Lebensanschauung, Lebensgestaltung.“ Dies sollte in der neuen Menschheitsreligion auf dem Boden der Vernunft und Wissenschaft, wie der rein natürlichen Sittlichkeit geschehen. Doch weiter kommt dies auch zum Ausdruck in den „religiösen Feiern und Festen, in denen in besonderer, über das Alltägliche sich erhebender, Weise die Welt- und Lebensanschauung eindringlich gemacht und verklärt werden sollte“ und bei denen deshalb im großen Umfang die Kunst sich mit der Religion verband. Kramer weist hin auf ein proletarisches Preisausschreiben zwecks Sammlung von: · 1./2. Grab- und Einäscherungsgesängen, · 3./4. Lieder zur Sommer- und Wintersonnenwende, · 5./6. Liedern zu Geburts- und Eheschließungsfeiern, · 7. von Kampfliedern für Freidenker, indem er überzeugend fortfährt: „Und nun frage ich: Sind das nicht die uralten Feste und Feiern der Religion? Muss denn die Religion durchaus Fetisch- und Geisterglaube, muss die durchaus Heidentum, Christentum, Buddhismus, Mohammedanismus, Weltgeistglaube, Gottes- und Jenseitsglaube sein? Sind das nicht lauter Stufen der Religion? Soll und kann nun nicht von uns eine höhere Entwicklungsstufe erreicht werden, wo die Religion rein natürlich-menschliche Welt- und Lebensanschauung geworden ist? – Ich frage euch, ihr Mitglieder der Gemeinschaft proletarischer Freidenker, die ihr den Namen der Religion ausbrennen möchtet: Habt ihr nicht selbst, ohne dass ihr es zugeben wollt, die freie Menschheitsreligion mit derselben wissenschaftlichen Weltanschauung und denselben Feiern und Festen, wie wir in unseren zum Bund für Geistesfreiheit gehörigen freireligiösen Gemeinden und Freidenkervereinen? Also lasst uns doch zugeben, dass Religion keine Verdummung, keine Versklavung, kein Rückschritt zu sein braucht! Lasst uns einsehen, dass auch die Religion aus Rohheit und Unvollkommenheit zu Klarheit und größerer Vollkommenheit sich entwickeln kann und muss – und doch ihrem Grundwesen nach Religion bleibt!“ Um diese selbe Mahnung für religionsfeindliche Freidenker und Dissidenten eindringlichst zu begründen, dazu geht vorliegende Broschüre in die Welt. Das dargebotene Gedanken- und Tatsachenmaterial erweist für jeden, der nicht aus bloßen Gefühlsneigungen und blinden Stimmungsvorurteilen das große Problem vorschnell abtut, klipp und klar auf wissenschaftlicher Basis, völkerkundlich, psychologisch, philosophisch, theoretisch wie praktisch, den rein natürlichen Eigencharakter der Religion und ihren unersetzlichen Wert. Welch eine Riesentorheit, ja geradezu ein – unbeabsichtigtes - Verbrechen an der Menschheit wäre es, die unsagbare Kraft und Fülle des Geistes, die in der Reli-gion enthalten liegt, jetzt gleichsam auf den Kehrichthaufen zu werfen; jetzt, wo die Religion im Zerfall der Schalen erst ihren eigentlichen wahren Kern erweisen, wo sie, aus barbarischen, knechtenden Irrungen befreit, das genialste Hochgefühl in Kopf und Herz des Menschentums aufschwellen lassen will: gerade jetzt, wo man mit der Kirche, die als anmaßende Alleinbesitzerin der Religion das Volk noch unerträglich beherrscht, im schwersten Kampfe steht und wo man ausgerechnet das beste Kampfmittel, den positiven herrlichen Ersatz der falschen alten durch die wahre neue Religion für Männer, Frauen und Kinder, sich aus der Hand schwindeln lässt, von kirchlichen Deutungskünsten unsagbar betört und umnebelt. Alles, was die Forscher an neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen bringen, was die Ethiker an neueren autonomen Moralbegriffen aufstellen, was die Politiker an neueren Staatsformen und Völkerbeziehungen anstreben, was die Wirtschaftler zur Erlösung der Menschheit im Ideal einer neuen Gesellschaftsordnung fordern, was die Ästhetiker an neuer Kunst, Schönheit und geistigem Genuss ins Leben tragen wollen, das alles klingt und wirkt erst machtvoll zusammen in der neu aufsteigenden Weltreligion, die dem Gesamtstreben der Menschheit den rechten Grund, wie den rechten Plan, Fundamente, wie Ziele, im Licht der Ewigkeit gibt, die beglückende, begeisternde, wahre Weihe des Lebens zu uralten Idealen. Denn wie die Religion im einzelnen Menschen die wunderbare Zusammenfassung alles Denkens, Wollens und Fühlens ist, so dokumentiert sie sich im Völkerleben als die grandiose Verschmelzung aller intellektuellen, ethischen und ästhetischen Kultur, als die dreieinig wirkende Macht des Wahren, Guten, Schönen, die als solche in jedem Menschen wohnt durch alle Verschiedenheiten und Einseitigkeiten der individuellen Veranlagungen. Religion war, ist und wird in aller Zukunft bleiben: die höchste, empor reißende Geniekraft des Menschen. Nur in ihrem Zeichen, unter ihrem Namen wird das Wahre, Gute, Schöne seinen Sieg auf Erden verwirklichen, wird das Menschenleben mit dem unendlichen Leben des hohen Universums in immer beseligenderer, heiliger Harmonie bewusst und unbewusst zusammenklinge.
Ende
[1] Die Ausführungen Tschirns über die in „halbtierischem Zustand“ lebenden Naturmenschen entsprechen noch dem Weltbild des neunzehnten Jahrhunderts. Diese sind falsch und intellektuell nicht haltbar. Die Forschung zeigt heute, dass so genannte Naturvölker ganz im Gegenteil über ein ausgesprochen ausgeprägtes Moralgefühl verfügen. Nur weil die Ethik der Naturmenschen nicht der europäischen entsprach, bewertete man diese damals als „roh und barbarisch“. Schon bei S. Freud dämmerte die Erkenntnis, dass in Naturgesellschaften im Zusammenleben Regeln zur Anwendung kommen, die für so genannte zivilisierte Forscher wegen ihrer Kompliziertheit nur schwer nachvollziehbar waren. Lothar Geis. |