Der freireligiöse Gedanke

 

 

Aufbau,

Begründung und Leistung

 

 

von

Dr. Georg Pick

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

aus:

Freireligiöses Leben

von Georg Pick

Erschienen 1962 im Selbstverlag der

Freireligiöse Gemeinde Mainz, K.d.ö.R.

(Textauszug: S. 85 - 95)

 

Wege zu freier Religion

von Dr. Georg Pick

 

 

 

Viele Mitglieder einer freireligiösen Gemeinde sind seit ihrer Kindheit in diese Überzeugung hineingewachsen, viele sind aus innerer Notwendigkeit von anderen Religionsgemeinschaften  oder auch nach jahrelanger Ablehnung jeder Religionsgemeinschaft zu uns gestoßen.

Worin liegt die Anziehungskraft des freireligiösen Gedankens?

Das Wort "frei" sagt dem Außenstehenden noch nicht viel. Dass es in unserem Zusammenhang nicht "frei von Religion" heißen kann, muss jedem klar sein, der die deutsche Sprache beherrscht.

Aber das Wort "frei" hat selbst wieder verschiedene Bedeutungen. Man könnte denken, die freireligiöse Gemeinde sei eine Gruppe von Menschen sehr verschiedener Glaubensvorstellungen, in der also Christen aller Bekenntnisse, Mohammedaner, Buddhisten, sich zusammenfinden könnten.

Ganz abwegig ist diese Meinung insofern nicht, als allen höheren Religionen etwas Urgemeinsames zu Grunde liegt. So sucht der Weltbund für freies Christentum und religiöse Freiheit (International Association for Liberal Christianity and Religious Freedom [IARF]) ,dem unter anderem . . . auch freireligiöse Gruppen angehören, Vertreter alle Religionen im Zeichen der Freiheit zu sammeln.

Der Bund Freireligiöser Gemeinden Deutschlands (gegründet 1859), dem zahlreiche Freireligiöse Gemeinden angehören, hat sich auf seiner Jubiläumstagung im Jahre 1959 dem Internationalen humanistisch-ethischen Bund (IHEU) angeschlossen. Über die Vielfalt der Religionen und ihre Belastung durch die Traditionen hinaus muss der Geist allmenschlicher Verbundenheit und sittlicher Verantwortung herausgestellt werden. Unter seinem Banner alle Menschen guten Willens zu sammeln erscheint heute auch unter religiösem Aspekt als eine Aufgabe ersten Ranges. Die Idee der Freiheit bezeichnet hier aber unmissverständlich, dass die Gruppen  die sich hier zusammenfinden, über ihre Tradition hinauszuwachsen im Begriff sind.

Damit kommen wir auch dem Gedanken einer freien Religion in unserem Sinne näher.

Jede Religion ist unter bestimmten kulturellen Verhältnissen entstanden. In der Entstehungszeit der geschichtlichen Glaubensbewegungen war eine Vorstellungswelt gegeben, die wir heute nicht mehr ernst nehmen können. Sie war durchsetzt von mythischen Erzählungen und Wundergeschichten, die ein noch unentwickeltes magisches Denken voraussetzten. Diese Elemente können naturgemäß keine Grundlage für das Denken der Gegenwart sein. Der Prozess der Befreiung zuAuffassungen, die unserem heutigen Gesichtskreis entsprechen, ist deshalb nicht aufzuhalten.

Schon im Mittelalter (Meister Eckhart, Nikolaus von Kues) hat diese Entwicklung begonnen, und in der Neuzeit hat sie sich vollendet. Die wissenschaftliche Forschung hat in den letzten Jahrhunderten ein Weltbild geschaffen, das für die magischen Vorstellungen der alten Religionen keinen Raum lässt. Dazu kommt, dass es durch die heute jedem Haus zugänglichen Bildungsmittel in zunehmendem Maße zu einem integrierenden Bestandteil der allgemeinen Volksbildung geworden ist.

Wenn wir feststellen, dass jede Religion aus den Voraussetzungen ihrer Zeit erwachsen ist, so muss dies auch für die Religion unserer Zeit gelten. 

Damit ist der Begriff der Freiheit  in unserem Sinne klargestellt. Er ist eng verbunden mit dem Begriff der Wahrheit und der Wahrhaftigkeit.

Freireligiös sind alle Menschen zu nennen, die es als unwahrhaftig empfinden, religiöse Vorstellungen fest-zuhalten, die sie vor ihrem Wahrheitsgewissen nicht verantworten können, die jedoch damit die Religion nicht als erledigt betrachten, sondern nach der Form religi-ösen Denkens und Lebens suchen, die den geistigen Grundlagen unserer Zeit angemessen ist.

Dieser Gesichtspunkt hat seinerzeit schon zur Entsteh-ung der freireligiösen Gemeinden geführt.

Als im Jahre 1844 der Heilige Rock zu Trier ausgestellt wurde, richtete der Kaplan Johannes Ronge ein offenes Protestschreiben an den Bischof von Trier, in dem er ihn der Unwahrhaftigkeit und des Missbrauchs des Volksglaubens zieh.

Der Brief wurde in den Sächsischen Vaterlandsblättern Robert Blums[1] veröffentlicht und weckte einen Widerhall, der mit dem Eindruck zu vergleichen ist, den Luthers 95 Thesen machten. Die politische Reaktion, die am Ende der vierziger Jahre einsetzte, tat allerdings der Bewegung schweren Abtrag.

In denselben Jahren hatten sich Gemeinden aus dem Verband der evangelischen Kirche gelöst, nachdem ihre Pastoren wegen ihrer Kritik an den Dogmen der Kirche entlassen worden waren. Zu den bedeutendsten gehören Julius Rupp, Gustav Adolf Wislicenus und Eduard Baltzer, die schon unverkennbar über den protestantischen Liberalismus hinausdrängten.

Ich darf auch ein  Beispiel einer persönlichen Entwicklung erwähnen. Ein entscheidendes Erlebnis, das den Verfasser in den Kreis der freireligiösen Bewegung führte, war mit einer Seminarpredigt verbunden, die er als Theologiestudent in Straßburg zu halten hatte.

Als Text war ihm die Erzählung von der Himmelfahrt Christi zugeteilt worden. Er begann seine Rede mit dem Hinweis, dass es sich um eine Legende handle, deren tieferem Sinn nun nachzugehen sei. Die entsetzte Ablehnung, die diese Einleitung erfuhr, zeigte ihm, dass die protestantische Kirche keinen Platz für ihn habe, und so suchte und fand er in der freireligiösen Bewegung die Möglichkeit, als freier Mensch religiös zu wirken. Jeder, den der Weg von der Kirche zu uns geführt hat, hat entsprechend sein eigenes Erlebnis gehabt, das ihm den entscheidenden Anstoß gab.

Das Recht der Religion

Allerdings ist damit nur der erste Schritt getan. Es besteht immerhin die Möglichkeit, dass auf dieser Basis keine echte Religiosität erreichbar wäre. Dann wäre Religion auf magische Vorstellungen angewiesen und hätte in der Kulturgeschichte ausgespielt.

Aber jeder, der sich mit den großen Denkern und Dichtern der Neuzeit beschäftigt hat, weiß, dass dies nicht der Fall ist. Den meisten ist die Religion höchstes Anliegen, und sie haben sich bemüht, sie als seelische Grundlage auch unseres heutigen Kulturlebens zu erweisen. 

Unsere klassischen Denker und Dichter haben jeder in seiner Weise das Wesen der Religion losgelöst von der Bindung an die Dogmatik des traditionellen Christentums herausgestellt.

Immanuel Kant (1724 - 1808), der dem Pflichtbewusst-sein eine zentrale Stelle in seiner Philosophie einräumte, erblickte im freien Gewissen des Menschen die göttliche Offenbarung, nicht in dogmatischen Glaubenssätzen.

Nach Johann Gottlieb Fichte (1742 - 1814) besteht die Religion darin, dass man Gott mit seinem eigenen geistigen Auge und nicht durch ein fremdes unmittelbar anschaue, habe und besitze.

Der freie Theologe Friedrich Schleiermacher (1768 - 1834) hat die Religion als Anschauen des Universums und Sinn und Geschmack fürs Unendliche, dann auch als das Gefühl schlechthiniger Abhängigkeit gekenn-zeichnet und ist damit weit über die Grenzen des bloß Christlichen hinausgegangen.

Goethe (1749 - 1832) erkennt die Grundhaltung des religiösen Menschen in der Ehrfurcht. Fromm sein, heißt ihm, "sich einem Höheren, Reineren, Unbekannten aus Dankbarkeit freiwillig hinzugeben".

Schillers (1759 - 1805) Auffassung ist durch das Wort gekennzeichnet: "Unter der Hülle aller Religionen liegt die Religion selbst, die Idee eines Göttlichen".

Friedrich Hölderlin (1770 - 1834) ist Religion "Liebe der Schönheit", die dem Menschen in Natur und Kunst entgegentritt.

Auf diesen Grundgedanken hat auch die neuere Philosophie weiter aufgebaut. Der Philosoph Wilhelm Windelband (1848 - 1915) hat in einem Bahn brechenden Aufsatz[2]  das Grundwesen der Religion als das Verhältnis zu dem bestimmt, was dem Menschen heilig ist.

Sein Schüler Heinrich Rückert (1863 - 1936) hat die Religion von allen anderen Kulturwerten abgegrenzt als das Verhältnis zum Ganzen, zur Totalität des Daseins. Das Geheimnis des Weltganzen ist letztlich dem religiösen Menschen Gegenstand eines inneren Verhältnisses als das Heilige und Göttliche.

Dem Begriff des Heiligen hat Rudolf Otto (1869 - 1937) tiefschürfende Untersuchungen gewidmet und gezeigt, wie auf allen Stufen der Religion es das Heilige ist, dem sich der Mensch gegenübersieht.

In seinen kulturphilosophischen Schriften hat Albert Schweitzer (1875 - 1965) die Ehrfurcht vor dem Leben als zugleich religiöse und sittliche Grundhaltung erkannt und sie zum bestimmenden  Impuls, zur Hilfsbereitschaft gegenüber aller Kreatur aktiviert.

Zusammenfassend können wir sagen: Das ewige Recht der Religion liegt in der Tatsache begründet, dass der Mensch sich einer Welt gegenübersieht, deren letzten Gründe er nicht kennt und nicht kennen kann; es kennzeichnet ihn aber, dass er diese letzten Gründe bejaht. Und indem er sie bejaht, werden sie ihm zum Inbegriff dessen, was ihm heilig ist.

Vom Menschen her gesehen ist Religion Ehrfurcht vor dem Urgeheimnis der Schöpfung, ein Gefühl für das Wunderbare alles Daseins, Glaube an einen höchsten sinnvollen Weltgedanken, Treue im Hin-blick auf den Urgrund seiner Existenz. Das sind die seelischen Kräfte, die als Religion sein Leben begleiten und allen seinen Lebenserfahrungen das eigene Gepräge geben.

Doch damit haben wir uns noch wenig über das allgemeine Wesen der Religion erhoben. Mit dieser Seelenhaltung haben sich immer besondere Vorstellungen verbunden, die dem Menschen den seelischen Halt im Wechsel seines Schicksals und die Richtung seines Denkens und Handelns gaben.

Dies muss die Religion auch dem heutigen Menschen leisten. Sie muss seinen Idealen die letzte Rechtfertigung in einem alles umfassenden Zusammenhang geben, und sie muss ihm darüber hinaus die Kraft schenken wenn die Welt oder er selbst vor diesen Idealen versagen, dennoch sich zum "heiligen Ja" durchzuringen, dem Ursprung treu zu sein, der ihn ans Licht gehoben hat. Eine solch freireligiöse Gottes- und Weltanschauung gibt es in der Tat.

Wissenschaft und Philosophie als Grundlagen einer freireligiösen Weltanschauung

Das Besondere freireligiösen Glaubens wurde schon kurz gekennzeichnet. Er unterscheidet sich von allen an die Tradition gebundenen Auffassungen darin, dass er alle primitiven magischen Vorstellungen ablehnt und den durch die Wissenschaft erarbeiteten Gesichtskreis zum selbstverständlichen Ausgangspunkt seiner religiösen Gedanken und Vorstellungen macht.

Das heutige Wissen um die Zusammenhänge der Welt hat zu Beginn der Neuzeit mit den astronomischen Erkenntnissen des Kopernikus und Giordano Bruno begonnen und ist mit der Entdeckung der Naturgesetze durch Galilei, Keppler und Newton weitergeführt worden. Neue Forschungsergebnisse auf dem Gebiet der Physik und Chemie reihten sich an, die durch die immer tiefer eindringende Atom- und Quantentheorie ihre Krönung gefunden haben.

Mit der durch Darwin begründeten Entwicklungs- und Vererbungslehre eröffneten sich neue Einsichten in das Wesen des Lebens und in diesem Zusammenhang des Menschen mit der Natur, die sich auch heute noch von Jahr zu Jahr erweitern.

Die Tiefenpsychologie hat, vor allem durch C.G. Jung, wertvolle Erkenntnisse beigetragen. Auch die religionsgeschichtliche Forschung hat uns neue Perspektiven eröffnet. Schon die Bibelkritik hat den Glauben untergraben, dass die Schriften der Bibel aufgrund einer göttlichen Inspiration geschrieben worden seien. Die Untersuchungen über den Ursprung des Christentums haben gezeigt, wie sehr es von anderen Religionsbildungen abhängig ist. Die Funde bei Qumran am Toten Meer haben viele von den Gedanken, die der freireligiöse Religionswissenschaftler Arthur Drews (Christumythe) ausgesprochen hat, bestätigt.

Der erste Denker, der alle wissenschaftlichen Erkenntnisse des 19. Jahrhunderts  in einem groß angelegten philosophischen Werk verwertete, war Eduard von Hartmann (1842 - 1906). Er sah in Gott eine unbewusste geistige Kraft, die die blinden Kräfte in der Welt zu überwinden strebt. Im Menschen habe der schaffende Geist sich das Werkzeug geschaffen, dieses Werk bewusst zu vollbringen.

Sein Schüler Arthur Drews (1865 - 1935), Mitglied unserer Religionsgemeinschaft, hat diese Grundgedanken neu gestaltet: Gott ist die die Welt durchdringende geistige Schöpferkraft und zugleich das tiefste Selbst im  Menschen, und Religion ist in diesem Sinne "das Selbstbewusstsein Gottes".

Von Friedrich Nietzsche ausgehend hat Ernst Horneffer (1871 - 1954) für den Gedanken, dass das Göttliche in der Welt kämpfend und leidend zu höheren Formen des Lebens emporsteigt, eine besonders eindringliche Sprache gefunden[3].

Von seiner wissenschaftlichen Arbeit bestimmt, hat der bahnbrechende Physiker Max Planck (1858 - 1947) als Fazit seiner Bemühung um die Religion die Worte hinterlassen: "Ich bin seit jeher tief religiös veranlagt, ich glaube aber nicht an einen persönlichen Gott, geschweige denn an einen christlichen Gott".

Wir schließen diese Reihe mit dem Hinweis auf das religionsphilosophische Werk Wilhelm Hauers  (1881 - 1962), das zu seinem 80. Geburtstag zusammengefasst erschienen ist.[4] Hier sind die aus den geistigen Voraussetzungen unserer Zeit sich ergebenden religiösen Gedanken klar erfasst. Zur Kennzeichnung seiner Grundkonzeption sei der Satz zitiert:

 "Was hier schafft, überall, immer, in allen wechselnden Erscheinungen, durch alle Weltkatastrophen und alle Zusammenbrüche und neu aufsteigende Gestaltungen im Reiche des Lebens hindurch, selbst unerschüttert, das Ewig-Wirkliche und Ewig-Wirkende, nennen wir das Urschöpferische, . . . Und dieses Urschöpferische wirkt auch in der Menschenwelt, die ja doch nur ein Teil dieses Ungeheuren ist."

In dem Jubiläumswerk des Bundes Freireligiöser Gemeinden Deutschlands - Freie Religionsgemeinschaft - Die freireligiöse Bewegung - Wesen und Auftrag (Mainz 1959) kann bei aller Eigenart der einzelnen Mitarbeiter doch eine einheitliche Grundauffassung festgestellt werden, die als wegweisend betrachtet werden kann.

Die freireligiöse Glaubenswelt

Der letzte Urgrund des Daseins ist uns verschlossen; die Beantwortung der Frage: "Warum ist die Welt?  Warum ist sie so, wie sie ist?" ist unserem Denken unzugänglich. Aber ein seelisch gesunder Mensch wird einem höchsten Sinnzusammenhang vertrauend, das "heilige Ja zum Leben" finden.

Wir suchen in der Welt eine Rechtfertigung für unsere bejahende Haltung und finden sie darin, dass in allem Dasein sich eine Richtung zur Ordnung der Kräfte findet. Jeder Atomkern ist schon eine komplizierte Ordnung von Kräften, jedes Atom, jedes Molekül und in eigener höherer Form jedes Lebewesen.

In der organischen Substanz, die das Leben trägt, ist diese Ordnung unendlich viel komplizierter, variabler, anpassungsfähiger.

Das Leben steht in dauernder Auseinandersetzung mit der Umwelt, ist in ewigem Wechsel[5] begriffen und steht unausgesetzt unter dem Druck einer unerbittlichen Auslese.

Es ist dabei zu berücksichtigen, dass die Richtung auf Ordnung, die sich in einem Organismus dokumentiert, der möglichst großen Sicherung des betreffenden Lebewesens dient. Es setzt sich dementsprechend das Individuum oder die Art durch, die die kunstreichsten Mittel zur Selbsterhaltung aufbringen, das heißt die größere Macht besitzen.

Der Machtwille wird erst im Menschen zum bewussten Streben. Friedrich Nietzsche hat den Willen zur Macht, wenn auch einseitig, zur philosophischen Besinnung gebracht. In der Natur ist weder ein bewusstes Machtstreben noch irgend eine andere Zielstrebigkeit als die Selbsterhaltung durch zweckmäßige Ausrichtung der körperlichen Vorgänge auf die bestehenden Verhältnisse vorhanden.

So vollzieht sich das Wunder der Entwicklung, die  die bis zum Menschen hingeführt hat, der zwar gleichfalls aus diesem naturhaften Ordnungsstreben als ein unendlich kunstreiches Gebilde hervorgegangen ist, aber darüber hinaus den Weg in einen neuen Bereich dieser Ordnungstendenz gefunden hat, in das Reich des Geistes, dessen Wissen sich als Wahrheit, als Schönheit, als Pflichtbewusstsein, als Liebe, als Religion darstellt. Jedes dieser Ideale ist genau gesehen ein eigenes Prinzip der Ordnung in diesem geistigen Raum.

Wenn wir hier die Worte Gottheit, Gott und göttlich aufgenommen haben, haben wir uns damit in die Religionsgeschichte eingereiht. Wir müssen aber dabei dem Gottesgedanken die Form geben, die unserem heutigen Weltbild entspricht. Weder unsere kleinen selbstsüchtigen Interessen noch eine gedankenlose Übernahme  traditioneller Vorstellungen darf uns bestimmen.

Bei Meister Eckhart entspricht das Wort Gottheit dem Weltmysterium, dem geheimnisvollen Grunde der Welt. In dieser Bedeutung wenden auch wir das Wort an.

Das Wort Gott gilt als symbolhaftes Gegenbild für das Gefühl des Gesichert-Seins, der Geborgenheit im Ewigen, kann aber auch wie das Wort "göttlich" das Schöpferische des Daseins bezeichnen.

Die Welt selbst ist augenscheinlich kein Kosmos, keine fertige Ordnung, wie die Griechen sie auffassten. Wir sehen sie nicht statisch, sondern dynamisch.

An vielen einzelnen Punkten haben sich, wie wir sahen, Ordnungen gebildet, die zunächst nichts voneinander wissen können. Es ergibt sich ein neuer Aspekt der Entwicklung, wenn wir verfolgen, wie einzelne solcher Einheiten sich mit anderen zu einem höheren Ganzen zusammenschießen. Hierin liegt das eigentlich Schöpferische, das sich im Menschen zu seiner höchsten Leistung erhoben hat. 

Das Nichtwissen um den anderen herrscht noch im Verhältnis der Pflanzen untereinander, wenngleich die einzelnen Zellen, aus denen die Pflanze besteht, sich schon in ein sie umgreifendes Ganzes einordnen. Im Tier entwickelt sich das Bewusstsein anderen Lebens, dem es hassend aber auch sich einordnend gegen-übertritt.

Im Menschen zeigt es sich klar bewusst etwa als Feindschaft, Verpflichtung und Liebe. Er ist als Teil einer Gemeinschaft im Familienzusammenhang Mensch geworden, und so trägt er - zu seinem Glück - starke gemeinschaftsbildende seelische Kräfte in sich; denn die Entwicklung wird ihn in immer weitere Kreise des Gemeinschaftslebens hineinziehen, und sie wird nicht ruhen, bis die ganze Menschheit in eine Ordnung eingereiht ist.

Mit klarer Denkfähigkeit und weiterem Gesichtskreis erfährt der Mensch den göttlichen Ordnungswillen als Auftrag. Er wird im Laufe der geschichtlichen Entwicklung eine Auslese seiner seelischen Kräfte vollziehen, die ihn immer mehr zum Gemeinschaftwesen macht, das in Freiheit dem Ganzen dient. 

Er erkennt Gott in allen Dingen und am unmittelbarsten in sich selbst. So weiß er sich mit allen Geschöpfen verwandt, ja im Grunde eines Wesens; denn es ist dieselbe schöpferische Kraft, die in allem lebt und ringt, aus ein und demselben Urgrund ausgeworfen in dieses Dasein. Im Bilde kann man sagen:

Die Welt sieht aus, als habe ein Gott die Aufgabe erhalten, durch unausgesetztes Ringen sein Wesen - die Ordnung - im irdischen Bereich immer klarer herauszustellen, ähnlich wie die Griechen sich Herakles vorstellten, der immer schwerere Aufgaben zu lösen hatte, bis er schließlich zu den Göttern erhoben wurde.

Wenn man diese Struktur der Welt erkannt hat, in der das göttliche nicht allmächtig ist, sondern als kämpfende Kraft erscheint, wird man nicht erwarten, dass eine Macht von oben nach unseren Wünschen eingreift.[6]  

Sie will vielmehr in uns, aus uns und durch uns ihr Ziel erreichen, und andererseits besitzen wir in ihr, nicht in unserer vergänglichen Person, ein ewiges Leben.

Diese Religion verzichtet auf alle Krücken auch des verhülltesten Aberglaubens.

Sie erkennt das Heroische als ein wesentliches Merkmal des religiösen Menschen. Der freireligiöse Mensch weiß, dass er den göttlichen Funken in sich trägt, dass das ewig Schöpferische in ihm seinen bisher größten Sieg gefeiert hat, zugleich aber auch vor seinen schwersten Aufgaben steht. Er ist nie allein, er ist verbunden mit allem, was Form und Gestalt hat, mit allen Wesen im Reich der Natur und unseres Geistes, auf unserer Erde wie auf anderen Sternen, er weiß, dass es etwas
Allgegenwärtiges ist, das in ihm kämpft und leidet und jubelt und höheren Höhen zustrebt.[7]

. . .

 

 

 

 



[1] Robert Blum fand im Jahre 1848 als Vorkämpfer und Märtyrer der demokratischen Freiheit in Wien den Tod.

[2] Präludium II. S. 295

[3] Am Webstuhl der Zeit - Religiöse Reden. Alfred Kröner Verlag. Leipzig 1914.

[4] Verfall oder Neugeburt der Religion. ein Symposion über
Menschsein,  Glauben und Unglauben. W. Kohlhammer Verlag. Stuttgart 1961.

[5] Immer wieder ergeben sich Erbänderungen (Mutationen), die den Organismus zwingen, das Zusammenspiel seiner Organe neu zu ordnen.

[6] Dies ist gewöhnlich die Bedeutung, die mit dem Begriff eines
persönlichen Gottes verbunden wird.

[7] Prinzipiell sei noch vermerkt, dass man dem religiösen Sachverhalt nicht gerecht wird, wenn man die verschiedenen Erscheinungsformen der Religion als Theismus (Gottglaube), Pantheismus (All-Gott-Glaube) und Atheismus (Ablehnung des Gottesgedankens) abstempelt und nun wähnt, sich gegenseitig ausschließende Standpunkte voneinander getrennt zu haben. - Alle geistigen Vertreter der Religionen  sind über den symbolischen Charakter des Gottesgedankens einig, wenn sie auch großenteils vor der letzen Konsequenz  zurück-schrecken mögen. Sinnbildlichen Charakter hat sowohl der Theismus wie der Pantheismus. Und es wird immer wieder Momente geben, in denen sich die theistische oder die pantheistische Symbolik aufdrängt oder eine Ablehnung primitiver Gottesauffassungen am Platze ist.